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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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sie sich beinahe verirrt, aber Cranston hielt immer
noch seinen blanken Dolch griffbereit, und bald erreichten sie
Whitefriars und dann die Fleet Street.
    »Ihr wißt,
wer die Dame war, Cranston, oder?«
    Der Coroner nickte.
»Lady Isabella Springall.« Er zügelte sein Pferd
und schaute zu Athelstan herüber. »Die Beschreibung
paßt auf sie, Bruder. Und ein Motiv hatte sie
auch.«
    »Welches?«
    »Eine Vermutung
- aber eine zutreffende, denke ich: Lady Isabella ist eine
Ehebrecherin. Sie liebt nicht ihren Mann, sondern den Bruder ihres
Mannes. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Spekulationen.
Fragen wir die Lady selbst.«
    Als sie beim Hause
Springall in der Cheapside angekommen waren, trat Cranston mit der
vollen Majestät und Kraft des Gesetzes auf. Er sagte dem
überraschten Buckingham, der sie im Hausflur
begrüßte, daß er Sir Richard, Lady Isabella und
alle anderen Mitglieder des Haushalts unverzüglich in der
großen Halle zu sehen wünsche. Der junge Schreiber
schürzte die Lippen, als wollte er Einwände
erheben.   
    »Ich sagte
unverzüglich, Sir!« herrschte Cranston ihn an, und es
kümmerte ihn nicht, daß seine Stimme durch das ganze
Haus und den Innenhof schallte, wo Handwerker bei der Arbeit waren.
»Ich will jeden sehen!« Er rauschte in die große
Halle. »Hier!« 
    Er marschierte quer
durch den Raum, erklomm am anderen Ende die Estrade, setzte sich
dort ans Kopfende des Tisches und bedeutete Athelstan, sich zu ihm
zu setzen. Achselzuckend förderte der Bruder sein
Schreibtablett, Pergament, Tintenhorn und Federkiele zutage.
Buckingham hatte wohl gemerkt, daß etwas nicht stimmte, denn
schon nach wenigen Augenblicken erschienen Sir Richard und gleich
darauf auch Lady Isabella in der Halle. Die Schönheit der
letzteren war heute nicht mehr durch die Trauer getrübt. Ihre
Augen waren nicht gerötet, und ihre Wangen blühten wie
zwei Rosen. Sie trug ein dunkelblaues Gewand, und ein weißer
Schleier verhüllte ihr kastanienbraunes Haar.
    Sir Richard, in
Kniehosen und offenem Batisthemd, wischte sich Staub von den
Händen und entschuldigte sich: Er sei draußen bei den
Handwerkern gewesen, die gerade letzte Hand an den Prunkwagen
für die Krönung des jungen Königs legten. Cranston
nickte nur und nahm die Erklärung gleichgültig
entgegen.      
    Auch der Priester kam
hereingehinkt, sein langes Haar umwehte sein ausgemergeltes Gesicht
wie ein Schleier. Er warf einen von tiefem Abscheu durchdrungenen
Blick auf den Coroner, sagte aber höflich: »Es geht Euch
gut, Sir John?«
    »Mir geht es
gut, Priester«, antwortete Cranston. »Um so besser, da
ich Euch alle hier sehe.«
    Dem jungen Priester
war der neue Unterton von Autorität in Cranstons Stimme
offenbar nicht entgangen. Er blieb einen Moment lang regungslos
stehen und starrte Sir John aus schmalen Augen an. Dann aber
lächelte er wie über einen geheimen Scherz und setzte
sich schwerfällig ans Ende der Tafel, wo er sein Bein
ausstrecken konnte. Dame Ermengilde kam hereingerauscht,
unterwürfig begleitet von Buckingham. Sie war ganz in Schwarz
gekleidet und durchquerte die Halle wie eine lautlose Spinne. Vor
dem Coroner blieb sie stehen.
    »Ich lasse
mich«, fauchte sie, »in meinem eigenen Hause nicht
herbefehlen!«
    »Madam«,
Cranston blickte nicht einmal auf, »Ihr werdet Euch hinsetzen
und hören, was ich zu sagen habe. Ihr werdet gehorchen, oder
ich bringe Euch ins Gefängnis nach Marshalsea, und dann
könnt Ihr dort sitzen und hören, was ich zu sagen
habe.« Er sah Sir Richard und Lady Isabella an. »Ich
will Euch nicht kränken. Ich weiß wohl, daß
gestern das Begräbnis begangen wurde; aber auch für zwei
andere Menschen wurden Seelenmessen gelesen, für Brampton und
für Vechey nämlich, und von diesen beiden habe ich Neues
zu berichten. Sie haben keinen Selbstmord begangen. Sie wurden
ermordet.«
    Cranstons Worte hingen
in der Luft wie eine Henkersschlinge. Dame Ermengilde preßte
die schmalen, feinen Lippen zusammen und setzte sich ohne weiteres
Aufheben neben Athelstan. Sie schien erschrocken, versuchte aber
angestrengt, dies hinter ihrer arroganten Maske zu verbergen. Sir
Richard warf Lady Isabella einen nervösen Blick zu. Am unteren
Ende trommelte der Priester leise mit den Fingern auf den Tisch und
summte ein frommes Lied. Buckingham hatte die Hände ineinander
verschränkt und starrte vor sich auf die Tischplatte. In
seinem Gesicht malten sich Überraschung und Schrecken.
Allingham kam als letzter dazu. Der

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