Die Gamnma Option
unglaubliche Kraft, doch am meisten beeindruckte ihn seine Entschlossenheit.
»Dann wollen Sie also die Aussage lesen.«
»Ich will den Jungen sprechen, der sie gemacht hat.«
»Ich hätte eigentlich schlafen sollen, Sir«, sagte der Junge, dessen Name Gilbert lautete. »Ich hatte zu dieser Zeit am Fenster nichts zu suchen.«
»Ich verstehe«, sagte Blaine. »Das wird unter uns bleiben.«
»Aber die Polizei … ich habe meine Aussage doch schon gemacht.«
»Hast du ihnen alles erzählt?«
»Ich glaube schon.«
»Aber du bist dir nicht sicher.«
»Mir fallen immer wieder … Sachen ein. Wahrscheinlich sind sie nicht wichtig.«
»Wahrscheinlich doch. Du kennst Matthew Ericson, nicht wahr?«
Der Junge nickte nachdrücklich. »Ja, Sir! Wir sind Kumpels.«
»Dann willst du ihm ja sicher helfen, was bedeutet, daß du mir helfen mußt.«
Gilbert zuckte die Achseln. »Ich kann manchmal schlecht einschlafen. Es hilft mir, wenn ich am Fenster sitze. Verstehen Sie, ich habe Asthma, und deshalb kann ich keinen Zimmergenossen haben … ich bin ziemlich laut, wenn ich schlafe. An schlimmen Abenden habe ich Angst vor dem Einschlafen, und deshalb bleibe ich wach. Wenn ich mich dann ans Fenster setze, werde ich wieder müde.«
»Wie heute abend?«
»So ungefähr. Aber dann hörte ich …«
»Hörtest du was?« Blaine rückte näher an den Jungen heran und achtete darauf, leise zu sprechen. »Bitte, du mußt jetzt keine Angst mehr haben.«
»Ich hörte, wie Mr. Nevilles Hunde bellten. Sie bellen des Nachts ziemlich oft, aber diesmal war es … anders. Wieso, weiß ich nicht genau.«
»Spielt auch keine Rolle. Was passierte dann?«
»Na ja, dann war da ein Geräusch, als würde etwas zerbrechen, und dann ein ziemlicher Lärm, bevor alles wieder still wurde. Und dann war da ein Schrei, nur einer, und die Hunde jaulten. Ich hatte Angst. Ich lief zum Bett zurück, aber ich zitterte so sehr, daß ich kaum noch Luft bekam. Nach ein paar Minuten ging ich zum Fenster zurück, und da sah ich sie dann.«
»Wen?«
»Zwei Gestalten.«
»Große oder kleine Männer?«
Der Junge sah zum Fenster. »Der Polizist hat mir auch nicht geglaubt. Er hat gesagt, ich solle mir noch mal überlegen, was ich gesehen habe.«
»Und was hast du gesehen?«
»Es waren keine Männer, Sir. Es waren Frauen.«
»Aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher«, fügte Gilbert fast augenblicklich hinzu. »Ich meine, es war so dunkel und so weiter.«
»Aber du weißt, was du gesehen hast.«
Ein zögerndes Nicken.
»Waren die Frauen groß oder klein?«
»Eine war groß.«
»Wie groß?«
»Weiß ich nicht genau. Sehr groß, glaube ich.«
»So groß wie ich?« fragte Blaine und richtete sich zu voller Größe auf.
»Mindestens. Noch größer, glaube ich. Sie war diejenige, die etwas über der Schulter trug.«
Matthew, dachte Blaine und bemühte sich, die Geschichte des Jungen zu verdauen. Zwei Frauen? Diese Möglichkeit schien nicht mit dem Anblick übereinzustimmen, den er unten gesehen hatte. Der Gedanke, daß es zwei Frauen so mühelos möglich gewesen war, Neville und seine Hunde zu töten … Wer sie auch sein mochten, die Mörder waren von Anfang an mit tödlicher Professionalität vorgegangen; jede ihrer Bewegungen sollte eine gewünschte Reaktion hervorrufen, auf die sie wiederum vorbereitet gewesen waren. Neville hatte genau in ihre Hände gespielt. Eine perfekte Show.
Die ausschließlich Blaine galt.
Sie töteten gern, soviel stand fest. Profis hätten ohne das geringste Aufsehen mit dem Jungen verschwinden können, doch offensichtlich hatte ihnen das nicht gereicht. Doch wenn es lediglich um Rache gegangen wäre, hätte er die Leiche des Jungen neben der Nevilles gefunden. Daß sie ihn statt dessen entführt hatten, bedeutete, daß jemand ein Druckmittel gegen ihn in der Hand haben wollte, und die Zurschaustellung von Gewalt sollte aufzeigen, daß sie bereit waren, alles zu tun, um …
Um was?
Alvin Willie wartete am Fuß der Treppe auf McCracken. »Hören Sie, Mr. McCracken, ich weiß nicht, wer oder was Sie sind, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber Reading ist meine Stadt, und die Menschen, denen hier etwas angetan wurde, stehen unter meinem Schutz, und …«
»Bis auf einen, Chief«, unterbrach ihn Blaine. »Bis auf einen.«
Er mußte ganz ruhig darüber nachdenken. In jedem Schachzug der weiblichen Mörder steckte eine gewisse Logik; nur das Aufsetzen von Nevilles Leiche schien nicht ganz in das Schema zu
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