Die Gauklerin
gleichaltrige Lisbeth einander als Freundinnen aus frühesten Kindertagen vorgestellt wurden, war der erste Augenblick der Verlegenheit rasch verflogen. Denn zwischen ihr und dem Mädchen mit den kräftigen dunkelroten Haaren und den Sommersprossen auf der spitzen Nase schien eine Art Seelenverwandtschaft zu bestehen – sie lachten über dieselben Dinge, machten sich über dieselben Leute lustig und waren gleichermaßen neugierig auf alles, was sie nichts anging. Es waren herrliche Tage damals, jede freie Minute verbrachte sie mit Lisbeth. Sie lernte die anderen Gaukler kennen, erfuhr alles über den Alltag der Fahrenden, hörte vonder unglücklichen Liebe Diegos zu ihrer Mutter und von so manchem Abenteuer aus ihrer eigenen Kindheit, an das sie selbst sich nicht mehr erinnern konnte. Als sie nach zwei aufregenden Wochen Abschied nehmen mussten, war es Agnes, als verliere sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen geliebten Menschen. Was blieb, war ein heimliches Fernweh, eine unbestimmte Sehnsucht nach einem anderen Leben.
Vielleicht war es das – vielleicht wussten ihre Eltern um diese Unruhe und wollten sie gerade deshalb in den Käfig eines wohlanständigen Lebens sperren. Aber an diesen Stubenhocker Ulrich würde sie sich nie und nimmer ketten lassen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Sie vergrub den Kopf in ihrem weichen Daunenkissen und versuchte, den herben Duft von Kaspars Haut nachzuspüren. Ihr schwindelte. Wie zärtlich und voller Liebe er sie letzte Nacht berührt hatte. Als es dann tatsächlich zu jenem bang erwarteten Moment gekommen war, hatte sie statt der erhofften Lust nur einen kurzen Schmerz verspürt. Doch der Stolz darüber, dass ihr Geliebter sie zur Frau gemacht hatte, ließ sie diesen kurzen Augenblick der Enttäuschung schnell vergessen. Sie und Kaspar gehörten jetzt zusammen. Für immer.
Den Gedanken an die möglichen Folgen ihrer Liebesnacht hatte sie verdrängt. Zumal Kaspar ihr versprochen hatte, er werde schon Acht geben, was auch immer er darunter verstand. Doch war ihr das in dieser wundervollen Nacht ohnehin gleich, sie würde bei ihm bleiben, da konnten ihre Eltern noch so zetern und zürnen. Schließlich hatte Marthe-Marie ihre Entscheidungen dazumal auch allein getroffen, hatte weder Vater noch Mutter um Einverständnis bitten müssen.
Jetzt galt es nur noch, die Zeit bis November hinter sich zu bringen – vielleicht konnte sie bis dahin ein paar Schillinge zusammensparen, indem sie öfter als bisher für die alte Grete aus dem Nachbarhaus Botengänge und Einkäufe erledigte. Dasmusste natürlich heimlich geschehen, denn für die Haustochter eines Schulmeisters schickte es sich nicht, Geld für Gefälligkeiten anzunehmen. Doch sie war fest entschlossen, Kaspar bei seinen Zukunftsplänen zu unterstützen. Sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten: Noch vor dem ersten Schneefall werde er eine feste Stellung an der herzoglichen Residenz in Stuttgart antreten, hatte er gesagt. Der Siegeszug der italienischen Oper an den Fürstenhöfen sei unaufhaltsam, und er habe fast ein Jahr bei einem Chor- und Kapellmeister in Mantua gelernt. Nur aus der Not habe er sich dieser Gauklertruppe angeschlossen, doch jetzt sei seine Zeit gekommen. «Nie wieder will ich auf einem verlotterten Bühnenkarren von diesen albernen Zeitungen singen oder mich in Schäferlumpen zum Hanswurst machen. Ich bin kein Gaukler, Agnes, ich bin ein Mann der Kunst.»
Das waren seine Worte gewesen. Agnes lächelte versonnen. Bei Hofe würde er zu den geachteten Leuten gehören, mit festem Einkommen und frei vom Makel der Rechtlosigkeit und Unehrlichkeit. Dann würden nicht einmal mehr ihre Eltern etwas gegen eine Heirat einzuwenden haben.
«Und du willst wirklich, dass ich mit dir komme?», hatte sie ihn am Vorabend gefragt. Nassgeregnet bis auf die Haut standen sie vor seinem Wagen am Ufer der Schussen, und Agnes hatte ein letztes Mal gezögert, ob sie tatsächlich das Nachtlager mit ihm teilen sollte.
«Aber ja, meine Prinzessin. Du musst! Du wirst mir Glück bringen.»
«Warum ziehst du dann erst mit den anderen weiter? Warum gehst du nicht gleich nach Stuttgart und sprichst bei Hofe vor?»
«Ach Agnes, das weißt du doch! Ich habe mit dem Prinzipal einen Kontrakt bis Martini, und es würde mich meinen letzten Heller kosten, wenn ich den breche.»
Bis Martini! Agnes seufzte. Und wenn ihn nun seine Reisen ganz woanders hinführten? Oder er bis dahin eine andere Fraukennen lernte? Ach was –
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