Die Gauklerin
Rheingrafen,während von den sechstausend Mann seines Landesaufgebots viertausend auf dem Schlachtfeld geblieben waren – darunter auch Antonias junger Hauptmann von Wolzogen. Als die unglückselige Post den Herzog erreichte, war der in panischer Eile nach Straßburg zu seiner Familie geflohen. Seinen Räten und Kanzleibediensteten hatte er freigestellt, zu bleiben oder sich auf eine der Höhenfestungen zurückzuziehen.
Die Mehrzahl hatte dann auch tatsächlich ihr Heil in der Flucht gesucht, sich nach Worms, Speyer oder Straßburg retiriert. Die einst so reiche und stolze Residenz Stuttgart trieb als führerloses Schiff auf den Wogen des Krieges, während der Herzog es sich im reichen Straßburg gut gehen ließ, sich wahrscheinlich die Zeit mit Jagen, Schießen und Gesellschaften vertrieb.
Wütend band sich Agnes die Schürze los und schleuderte sie zu Boden. Sie und alle anderen braven und getreuen Untertanen durften nun gesenkten Hauptes der Dinge harren, die das Schicksal für die Eroberten bereit hielt. Für diesen Abend nämlich waren alle Bewohner der Stadt, vom Patrizier bis zum Hintersassen und Taglöhner, zur siebten Stunde auf den Marktplatz einberufen, wo die Maßnahmen und Vorgehensweisen bezüglich der Übergabe ihrer bedauernswerten Stadt verlautbart würden.
Ohne Eile schlenderte Agnes hinüber in den Dienstbotenflügel, durch verlassene Hallen und gespenstisch stille Flure, vorbei an ausgeräumten Zimmern, deren Türen offen standen. In ihrer Kammer lag die Mutter auf dem Bett, stumm und mit geschlossenen Augen, während ihr David aus der Lutherbibel vorlas. Man hätte meinen können, sie ruhe sich nur aus, doch seit ihrem Sturz vor drei Wochen hatte sie sich nicht mehr gerührt, kein Wort mehr gesprochen. Dabei ging es ihr nicht besser und nicht schlechter als an dem Tag, als sich Prinzessin Antonia und mit ihr der Hofarzt verabschiedet hatten. Kein Fieber, keine Krämpfe der Muskeln, kein Ausdruck des Schmerzes. Mehrmals am Tag betteten sie sie um, damit sie sich nicht wund lag, flößten ihrHühnerbrühe und süße Milch ein, die sie auch willig schluckte, ansonsten gab sie kein Lebenszeichen von sich. Dennoch ließ es sich David nicht nehmen, ihr vorzulesen oder ihr von der Schule und seinen Freunden zu berichten, und auch Agnes hatte sich angewöhnt, mit ihr zu sprechen. Mit einer Antwort rechnete sie nicht mehr.
Denn sie wusste besser als jeder Medicus, was ihrer Mutter fehlte: Marthe-Marie konnte nicht in Frieden sterben, solange sie im Ungewissen über das Schicksal ihrer beiden Söhne blieb. Aber wahrscheinlich hatten Jakob und Matthes die Briefe nie bekommen.
Agnes strich David übers Haar, dann gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die kühle Stirn.
«Ich muss zu dieser Bekanntmachung in die Stadt. Gebt gut aufeinander Acht, ihr beiden.»
Gemeinsam mit Rudolf, der schon an der Türe wartete, machte sie sich auf den Weg zum Rathaus. Aus allen Gassen strömten die Menschen herbei, und so trafen sie auch Else und Melchert. «Seht euch diese Leichenbittermienen an. Das schaut ja aus wie ein Trauerzug», krächzte die Alte. Sie hinkte stärker denn je. «Sitzt uns nicht tatsächlich das Schwert im Nacken? Wie ist das Bündnis mit Schweden unserem Land doch zum Verhängnis geworden», sagte Rudolf niedergeschlagen. «Und doch hat es nie eine andere Wahl gegeben.»
«Und ob!» Agnes entzog ihm ihren Arm. Zum zweiten Mal an diesem Tag blitzte in ihren dunkelblauen Augen der Zorn. «Der Herzog hätte an der Neutralität festhalten sollen! Dann müssten wir jetzt nicht die Rache der Kaiserlichen fürchten.»
Auf der Treppe zum Rathausportal hatten sich bereits ein paar ernste, vornehm gekleidete Herren aufgestellt: der klägliche Rest einer Heerschar von Räten und Kanzleibeamten. Agnes fragte sich, ob diese Männer nun zu den Tapfersten ihres Schlages gehörten oder ob es die waren, die ihr Mäntelchen am entschiedenstennach dem Wind hängten. Der Ratsdiener bestieg sein hölzernes Podest und schwenkte die Glocke.
«Bürger und Bürgerinnen der Stadt Stuttgart! Angehörige des erlauchten herzoglichen Hofes zu Württemberg! Hiermit sieht sich der verbliebene Rat der Stadt sowie die ehrwürdige herzogliche Kanzlei veranlasst zu notifizieren, dass der Einzug Seiner Majestät des Königs von Ungarn unmittelbar bevorsteht.»
Es folgte eine schier endlose Reihe wohl gesetzter Erklärungsversuche, warum den Häuptern dieser Stadt und des Herzogtums Württemberg angesichts der Lage nichts anderes
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