Die Gauklerin
Munition herauf, dann eine gespenstische weiße Gestalt nach der anderen. Aus dem Tal knallten Schüsse durch die Nacht.
Als Letzter schwang sich endlich Sandor mit letzter Kraft über die Mauer, die nassen dunklen Locken wirr in der Stirn. Das helle Leintuch über seiner linken Schulter war blutgetränkt.
Mit einem unterdrückten Schrei hastete Agnes die steile Stiege zum Wehrgang hinauf.
«Sandor! Du bist verletzt.»
Doch seine Augen strahlten, als er sie sah. «Sollen sie nur ihr Pulver verschießen», lachte er. «Wir haben jetzt genug auf Monate.»
«Aber du blutest!»
«Ein Streifschuss, nichts weiter.»
Endlich war auch Burmeister zur Stelle. Der Bratensaft klebte ihm noch im Bart, als er mit seiner Fackel in der einen, seiner Arzttasche in der andern Hand auf dem Wehrgang erschien.
«Hierher, Doctor, der Adjutant hat eine Schusswunde.»
Mit Burmeisters Hilfe streifte Agnes dem Verletzten Leintuch und Kettenhemd vom Leib.
«Sauberer Fehlschuss, könnte von mir sein.» Burmeister zog seine Fackel zurück. «Verehrte Agnes, bringt ihn in die Küche und wascht die Wunde warm aus. Dann einen sauberen Leinenstreifen drumherum, fertig. Ich bin mir sicher, Ihr leistet in diesem Fall bessere Dienste als ich.» Er zwinkerte Sandor zu. «Ich muss weiter, ein ausgekugeltes Gelenk wartet.»
Eine Stunde später lag Sandor, in frischem Hemd und die Schulter verbunden, in seinem Bett.
«An dir ist eine Heilkundige verlorengegangen.» Er streckte den Arm aus und zog sie neben sich. «Dieser Sauschneider von Burmeister sollte bei dir in die Lehre gehen. Au!» Er fuhr zusammen bei dem Versuch, Agnes in die Arme zu nehmen.
«Siehst du – das ist die gerechte Strafe für solch tollkühne Ausflüge.»
«Dafür haben wir jetzt alles, was wir brauchen. Die Kaiserlichen werden sich wundern.»
«Woher habt ihr die Munition?»
«Aus dem Waffenarsenal in Engen, einem Städtchen nicht weit von hier.» Er lachte leise. «Als Handwerker verkleidet haben wir uns Zutritt zur Torstube verschafft und dann die völlig verblüfften Wächter überrumpelt. Völlig unbehelligt sind wir dann bis vor die Pforte des Zeughauses gelangt. Das Arsenal zu stürmen war nur noch eine Kleinigkeit mit unseren Handgranaten. Bis sich die Verwirrung gelegt hatte, waren wir längst wieder über alle Berge. Dieser Widerhold ist immer noch derselbe Malefizkerl.»
«Hat es in Engen Verletzte gegeben – oder Tote?»
«Ich weiß es nicht. Aber so ist halt der Krieg.» Mit einem Mal stand ihm die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben.
Agnes strich zärtlich über seine zerschrammte Stirn.
«Ich hatte solche Angst um dich.»
«Ich weiß.» Er küsste ihre Hand.
«Wie wird das erst sein, wenn wir getrennt sind? Wenn ich Jahr um Jahr auf dich warten muss, nichts höre und nichts weiß von dir.»
«Ich werde jedem Kurier einen Brief an dich mitgeben. Und eines Tages werde ich vor dir stehen.»
«Wann wird das sein? Wenn dieser verfluchte Krieg vorbei ist, in fünf Jahren vielleicht oder in hundert?»
«Nein, Agnes, so lange werde ich nicht warten. Ich glaube fest, dass sich das Blatt schon früher wenden wird.» Er räusperte sich. «Ich hab dir etwas mitgebracht. Drüben am Waschtisch, an meinem Gürtel, da hängt ein kleiner Lederbeutel.»
Sie stand auf und holte den Beutel.
«Warte», sagte er. «Mach die Augen zu und gib mir deine linke Hand.»
Agnes spürte, wie er ihr einen Ring auf den Finger steckte. Das Metall fühlte sich angenehm kühl an.
«Jetzt darfst du die Augen öffnen.»
Ein zierlicher Ring aus gedrehtem Silber glänzte im Schein der Lampe, darin eingefasst ein glutroter Rubin.
Agnes brachte kein Wort hervor.
«Gefällt er dir nicht?»
«Er ist – wunderschön!»
«Mit diesem Ring will ich dir geloben», er zog sie an sich heran, «dass ich bald zu dir nach Stuttgart komme und dich zur Frau nehme. Dass wir auf immer zusammengehören.»
Zum Jahresbeginn ging das Brennholz aus, und sie mussten alle auf einem einzigen großen Strohlager in der Küche nächtigen, wo sie das Herdfeuer mit abgeschlagenen Brettern vom Schuppen und von der Scheune anfachten. Mit Wehmut dachte Agnes an ihre hübsche Kammer zurück, wo sie so viele Nächte mit Sandor verbracht hatte. Hier, in der Öffentlichkeit dieses Massenlagers, traute sie sich nicht einmal, ihn des Nachts in den Arm zu nehmen, obwohl ihre Liebschaft längst ein offenes Geheimnis war.
Dann kam der Hunger. Zwar hatte ein Teil der Belagerungstruppen Winterquartier in
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