Die Gauklerin
Singen und Engen genommen, doch wagte Widerhold kein zweites Mal, den Ring zu durchbrechen. So wurden die Essensrationen von Tag zu Tag winziger. Die Männer schienen noch mehr darunter zu leiden als die Frauen; einer nach dem anderen wurde von Fieber und Katarrh gepackt.Endlich, nachdem tagelang Schnee- und Eisstürme gewütet und die Zelte und Planen der Belagerer zerfetzt hatten, gaben die Kaiserlichen auf. Für den Rest des Winters zumindest würden sie ihre Ruhe haben.
Der Alltag auf der Festung kam langsam wieder in Gang. Sie schlugen Holz am Fuße des Berges, brachten die Pferde auf ihre Weide, und Widerhold und seine Leute brachen zu ihren Streifzügen in die Umgebung auf, in der es letztendlich nichts mehr zu holen gab, geschunden, wie das Land war. So fiel die Ausbeute auch erbärmlich gering aus, wenn die Männer nach zwei, drei Tagen zurückkehrten. Agnes zerriss es jedes Mal das Herz, wenn sie daran dachte, dass das Wenige, was sie nun hatten, anderen Menschen fehlte, vielleicht zu deren Verderben.
Die Menschen auf der Festung erwarteten nichts sehnlicher als das Frühjahr, gierten nach den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, nach langen, hellen Tagen. Agnes hingegen dachte voller Bangen daran, denn sie und Matthes würden, sobald es die Witterung zuließ, heimkehren. Sie machte sich nichts vor: Vielleicht würde der Abschied von Sandor ein Abschied für immer sein.
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Stuttgart, den 20. Februar
anno Domini 1636
Ich bin sehr glücklich: Dank meiner Verdienste als Feldscher habe ich erwirken können, dass ich nun täglich zu Mutter in die Vorstadt darf, auf eine Stunde in den frühen Abendstunden. Sie sieht sehr elend aus, und ich bin immer wieder nahe daran, ihr zu sagen, dass Agnes und Matthes tot seien. Wenn für sie damit das Warten ein Ende hat – vielleicht vermag sie dann zu sterben.
Nicht einmal die Pest hat ihr etwas anhaben können. Ach, ich werde es ihr doch sagen, es ist das Beste, ich glaube ja selbst nicht mehr an ihre Rückkehr. Im Herbst hat der Bote vom Hohentwiel die Nachricht gebracht, sie würden bald heimkehren, und nun haben wir fast März.
Von diesem Widerhold hört man hier in der Residenz die unglaublichsten Dinge: Mit seinen waghalsigen Beutezügen im Umland und seiner Standhaftigkeit gegenüber Angriffen wie Verhandlungsangeboten der Kaiserlichen hält er die Burg noch immer, wo doch alle übrigen Landesfestungen längst gefallen sind. Er soll sogar den Herzog in seinem Exil unterstützen, indem seine Leute, als Bettler verkleidet, in ihre Bettelstäbe Goldstücke nach Straßburg schmuggeln. Wenn dem so ist, würde ich Widerhold dafür allerdings liebend gern ins Gesicht spucken. Denn während dieser saubere junge Herzog mit seinem Hofstaat schlemmt und säuft und die Zeit mit Jagen und Tanzen totschlägt, lässt er seine Untertanen ohne jede Hilfe und Trost.
Dabei ist das Elend hier unermesslich. Obwohl das letzte Jahr sehr fruchtbar war, ist wegen der herumstrolchenden Kriegsvölker die Ernte nicht eingebracht worden – im zweiten Jahr nun schon. Brot und Getreide sind unerschwinglich, die Menschen leben von Eicheln aus den Wäldern, von Brennnesseln, Schnecken und Ratten. Der Kaisersohn und dieser Branntweingeneral Gallas haben sich längst davongemacht. Ja, die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Aus meinem Fensterchen sehe ich jeden Morgen den Totengräber durch die Gassen gehen und die Leichen der Verhungerten aufsammeln. Und des Abends schleicht er in die Häuser und holt die Pesttoten ab, inzwischen an die fünfzig jeden Tag! Die Stuttgarter haben sich wahrlich zu früh gefreut. Was ihnen an Zerstörung durch die Soldaten erspart geblieben ist, haben nun Hungersnot und Pest übernommen: Jede Woche wird ein neues Massengrab ausgehoben.
Beinahe hätte ich vergessen: Gestern hat Stadtkommandant Ossa
mich offiziell zum Garnisonsarzt bestallt, nachdem sich mein bisheriger Herr und Meister heimlich mit der Schatulle des Lazaretts aus dem Staub gemacht hat. Ossas lobende und höchst salbungsvolle Worte haben mich zum Lachen gebracht – ein Garnisonsmedicus, der nichts anderes ist als ein erbärmlicher Gefangener! Erneut hat er mich gefragt, ob ich nun endlich dem falschen Glauben abschwören und mich unter die kaiserliche Fahne stellen würde, und wieder hab ich mich geweigert. So darf ich zwar weiterhin das Schloss nur unter Bewachung verlassen, bei der Erfüllung meiner Pflichten indessen lässt man mir nun freie Hand. Endlich kann ich mich nach den
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