Die Gauklerin
Majolis lässt mir inzwischen bei den Behandlungen und chirurgischen Eingriffen freie Hand, da ihn die Gicht nunmehr täglich plagt. Er setzt alles daran, mich zu seinem Nachfolger als Stadtarzt zu machen, und so sehe ich der Zukunft zuversichtlich entgegen. Schon im nächsten Sommer soll ich mich zur Meisterprüfung anmelden. Bis dahin muss ich mein Wissen um die menschliche Anatomie allerdings noch gründlich vertiefen. Zwar haben wir seit letzter Woche zwei Patienten mit offenem Bein und einen mit inwendig entzündetem Thorax, indes bleiben meine Kenntnisse leider viel zu oberflächlich, und ich werde wohl nie Gelegenheit haben – verzeih mir die unverblümten Worte –, Leichname zu öffnen. Denn dieser unselige papistische Kirchenbann über die anatomische Forschung behindert jeglichen Fortschritt der Medizin, und so findet sich Gelegenheit zur Obduktion nur an den großen Fakultäten oder auf dem Schlachtfelde.
Doch genug von mir geschwatzt. Hast du jemals von Matthes gehört? Er hat uns vor einiger Zeit aus Pommern geschrieben, das erste und einzige Mal nach seiner Flucht. Der Anlass war sehr traurig: Sein Freund Gottfried Gessler ist aus dem Hinterhalt gemeuchelt worden. Matthes selbst hat nichts Näheres darüber verlauten lassen. Seinem Schreiben lag aber eine Mitteilung der Regimentskommandantur bei, die wir den armen Eltern bringen mussten. Mutter war über diese schreckliche Nachricht so entsetzt, dass sie aus Angst um Matthes kaum noch schlafen konnte. Doch
jetzt, mit dem Lübecker Frieden, hat sie wieder Hoffnung geschöpft und betet jeden Abend mit mir, dass Matthes sein Kriegshandwerk aufgeben und heimkehren möge. Keiner hier versteht, wie er ein so glühender Verehrer dieses Friedländers werden konnte, in dessen Diensten er zum Dragoner aufgestiegen ist, inzwischen sogar zum Corporal. Das war auch alles, was er über sich selbst geschrieben hat. Danach folgten Dutzende und Aberdutzende Zeilen über diesen Wallenstein, der von aller Welt verkannt würde, durch dessen Bemühen allein der Lübecker Friede zustande gekommen sei und für dessen Vision von deutscher Einheit Matthes kämpfen wolle unter Einsatz seines Lebens. Man brauche keine Fürsten und Kurfürsten mehr, und wie in Hispanien und Frankreich ein einziger König herrsche, so solle auch in Deutschland nur ein Herr allein sein. Sein ganzes Schreiben war so eine Predigt! Nichts über sein Tagwerk als Söldner, ob er eine Frau hat, in welcher Herren Länder er war. Mutter hat das alles sehr traurig gestimmt. Aber womöglich hat er ja dir mehr geschrieben, andere Dinge, die man eher einer Schwester mitteilt.
So hoffe ich denn, dass es dir und meinem kleinen Neffen gut geht und dass der Friede sich verfestigt und ein endgültiger wird. Denn dann schwinge ich mich auf ein Ross und komme dich besuchen!
Gib David einen Kuss von mir, in Liebe, dein Jakob.
Von draußen waren kurze, eilige Schritte zu hören, dann flog die Tür auf, und David stürzte herein.
«Wo ist mein Ball? Ich will noch in den Garten.»
«Langsam, mein Wildfang. Zum Ersten wird es gleich dunkel, zum Zweiten soll ich dich von deiner Großmutter und deinem Onkel umarmen. Die haben uns nämlich Post geschickt.»
Mit verkniffenem Gesicht ließ David die Küsse über sich ergehen, dann rief er: «Bitte,
maman
, es ist noch gar nicht dunkel. Nur noch ein Weilchen.»
Agnes lachte. «Na gut. Und sag nicht ständig
maman
zu mir.»
«Die anderen sagen das auch.» Damit war er verschwunden.
Agnes setzte sich an ihren Waschtisch. Sollte sie nicht doch nachgeben? Nein, eine Vermählung mit Rudolf stand außer Frage. Aber sie spürte, dass ihre Mutter ihr längst verziehen hatte. Sollte sie nicht einfach zurückkehren nach Ravensburg, ihr im Alter zur Seite stehen, sie trösten in ihren Ängsten um Matthes? Warum nur hatte er ihr, der eigenen Schwester, niemals geschrieben? Sie hatten sich doch immer so nahe gestanden.
Sie hörte David vom Treppenhaus her lachen. Er schien nichts zu vermissen, weder einen Vater noch eine richtige Familie. Sein Zuhause war die Residenz mit ihren Hunderten verborgenen und geheimnisvollen Winkeln, ihren Gärten, Gehegen und Stallungen, seine Familie waren die Hofdamen, Kammerjunker und Dienstmägde, die Stallknechte und Hundewärter samt deren Kinderschar. Auch ihr selbst war dies alles ans Herz gewachsen, das hatte Agnes an diesem wunderbaren Tag deutlich gespürt.
Mit einem schmerzlichen Lächeln faltete sie den Brief zusammen und beschloss,
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