Die Geächteten
Bibel«, sagte sie in Richtung Wand mit der Essensausgabe. Dann wartete sie. Das Mittagessen kam: zwei Riegel, eine Pille. Keine Bibel. »Hey«, sagte sie zur Wand, noch nicht schreiend. »Hört mir jemand zu? Ich möchte eine Bibel. Der Aufseher sagte mir, ich könnte eine bekommen, wenn ich wollte.« Widerwillig fügte sie hinzu: »Bitte.«
Die Bibel kam mit dem Abendbrot. Es handelte sich um eine King-James-Bibel und nicht um die New International Version, mit der Hannah aufgewachsen war. Der Ledereinband war rissig, die Seiten hatten Eselsohren. Das Neue Testament war abgenutzter als das Alte, abgesehen von den Psalmen, deren Seiten so beschmutzt und zerfleddert waren, dass sie die einzelnen Texte kaum noch ausmachen konnte. Doch der Vers, den sie suchte, war noch leserlich. »Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch«, flüsterte sie. »Ein Spott der Leute und verachtet vom Volke. Alle, die mich sehen, verspotten mich …«
Ihre Mutter verachtete sie jetzt; das hatte sie ihr klar zu verstehen gegeben, als sie Hannah ein einziges Mal im Gefängnis besucht hatte, kurz bevor die Verhandlung begann. Bis dahin hatte Hannah schon drei Monate hinter Gittern verbracht. Ihr Vater war jeden Samstag gekommen, und Becca so oft sie konnte. Doch ihre Mutter hatte Hannah seit dem Tag ihrer Verhaftung nicht mehr gesehen. Als sie in den Besucherraum kam und das vertraute Gesicht sah, musste sie weinen, herzzerreißend schluchzen und seufzen.
»Hör mit dem Geplärr auf«, sagte ihre Mutter. »Hör damit auf, oder ich gehe sofort wieder durch die Tür. Hast du mich verstanden?«
Die Worte fielen wie Steine auf Hannahs verwundete Seele. Sie wischte ihre Tränen fort, setzte sich hin und erwiderte den frostigen Blick ihrer Mutter, ohne zurückzuschrecken. Die Augen, ja das ganze Gesicht ähnelten ihr so sehr. Es kam ihr in den Sinn, dass ein Künstler, würde er jetzt ihre beiden Silhouetten skizzieren, absolute Ebenbilder erschaffen würde.
Selbst mit fünfzig und selbst in einem einfachen beigefarbenen Kleid war Samantha Payne eine auffallende Frau. Sie war groß und vollschlank und besaß eine würdige Ausstrahlung, weshalb einige sie für stolz hielten. Ihre großen Augen waren schwarz und wurden durch ausgeprägte Augenbrauenstriche betont, und ihr dunkles, von weißen Strähnen durchzogenes Haar war immer noch üppig. Hannah hatte diese Fülle von ihrer Mutter geerbt. Im Verlauf der Jahre hatte sie viele Standpauken ihrer Mutter über die Torheit irdischer Eitelkeit erdulden müssen. Sie und Becca waren diesen gleichermaßen ausgesetzt, doch es war ihnen beiden klar, dass diese Ermahnungen in erster Linie Hannah galten.
»Ich bin nicht hier, um dich zu trösten«, sagte Hannahs Mutter. »Ich bringe dir nicht mehr Zuneigung entgegen, als du für dieses unschuldige Baby empfunden hast.«
Bei den harten Worten ihrer Mutter stockte Hannah der Atem. »Und weshalb bist du dann gekommen?«
»Ich möchte seinen Namen wissen. Den Namen des Mannes, der dich entehrt hat und dich dann gezwungen hat, das Kind abzutreiben.«
Hannah schüttelte unwillkürlich den Kopf, während sie sich daran erinnerte, wie sich Aidans Lippen auf ihrer Haut angefühlt hatten, als er die Innenseite ihres Ellenbogens küsste, den zarten Spann ihres Fußes. Aidan, wie er mit seinen Händen ihr Haar vom Hals hob, ihre Arme auseinanderriss, ihre Beine auseinanderdrückte, damit sein Mund selbst ihren verborgenen Teil erobern konnte. Es hatte sich nicht wie eine Entehrung angefühlt. Es hatte sich wie Anbetung angefühlt.
»Er hat mich nicht gezwungen«, antwortete sie. »Es war meine Entscheidung.«
»Aber er hat dir das Geld gegeben.«
»Nein, das habe ich selbst bezahlt.«
Ihre Mutter runzelte missbilligend die Stirn. »Woher hast du so viel Geld gehabt?«
»Ich habe schon eine ganze Weile gespart … Ich habe gehofft, irgendwann einen eigenen Kleiderladen eröffnen zu können.«
»Kleiderladen! Ein Geschäft für Schlangen und Huren meinst du wohl! Oh ja, ich habe all die sündigen Dinge gefunden, die du gemacht hast. Ich habe sie in Stücke geschnitten, jedes einzelne Teil.«
Noch mehr brutale, unvermutete Steinschläge. Sie trafen Hannah schwer, und sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen. All ihre Schöpfungen waren zerstört. Auch wenn sie gewusst hatte, dass sie diese nie in der Öffentlichkeit würde tragen können, so hatte allein die Tatsache, dass sie existierten, ihre verschwenderische Schönheit, sie in den langen eintönigen
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