Die Geächteten
würde sie jetzt heiraten wollen, und selbst wenn sie einen fand, der bereit wäre, sie zur Ehefrau zu nehmen, könnte sie niemals ein Kind mit ihm haben. Das Implantat, das sie allen Verchromten einsetzten, würde dies verhindern. Und dann Verzweiflung. Wenn sie ihre Strafe verbüßt hätte und das Implantat entfernt werden würde, wäre sie zweiundvierzig, vorausgesetzt, sie würde bis dahin am Leben bleiben. Ihre Jugend wäre dahin, ihre Eier alt, ihre Chancen, einen Mann zu finden, mit dem sie Kinder bekommen könnte, verschwindend gering. Und schließlich Peinlichkeit, als sie sich an die Anwesenheit der Kameras erinnerte. Sie spürte, wie sie errötete, und realisierte ebenso schnell, dass niemand darüber würde sprechen dürfen – ein kleiner Segen.
Sie erhob sich, während sie nicht auf das Blut am Boden achtete, um sich zu waschen. Als sie aus der Dusche kam, war die Vorrichtung in der Wand offen. Im Innern lagen eine Schachtel Tampons, ein Päckchen sterile Reinigungstücher und ein sauberer Kittel. Als sie das sah, empfand sie eine so tiefe Scham, dass sie lieber sterben wollte, als das noch einen Augenblick länger erdulden zu müssen. Als sie mit gespreizten Beinen auf dem Tisch gelegen und die Hand eines fremden Mannes sich in ihrem Schoß zu schaffen gemacht hatte, hatte sie geglaubt, dass es nichts Schlimmeres geben könnte. Jetzt, wo sie mit diesen ganz gewöhnlichen Dingen konfrontiert wurde, die für den absoluten und unwiederbringlichen Verlust ihrer Würde standen, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte.
Sie hatte einfach mit der ganzen Sache noch nicht abgeschlossen. Sie hatte den Schwangerschaftstest vor gerade einmal sechs Wochen gemacht, weil ihre zweite Periode ausgeblieben war, und sich dann einen weiteren Monat gequält, bevor sie den Mut zum Handeln aufgebracht hatte. Sie hatte ein Mädchen gefragt, mit dem sie zusammenarbeitete, eine Verkäuferin im Brautsalon, mit der sie sich gut verstand, auch wenn sie keine Freunde waren. Gabrielle war nach eigenen Aussagen ein Wildfang, mit einem boshaften Sinn für Humor und einem Seemannsvokabular, das zum Vorschein kam, sobald ihr Boss und die Kunden außer Hörweite waren. Sie hatte endlos viele Männerbekanntschaften, manchmal mehrere zugleich, und sie war sich ihrer Promiskuität freudig bewusst. Ihre Art hatte Hannah anfangs schockiert und peinlich berührt, doch mit der Zeit lernte sie Gabrielles Selbstvertrauen und unerschütterliche Ruhe zu schätzen, sie, die sich so gänzlich unwohl in ihrer eigenen Haut fühlte. Von allen Menschen, die Hannah kannte, war Gabrielle die Einzige, der sie sich in dieser Sache anvertrauen mochte.
Als sie das nächste Mal zu einer Anprobe ins Geschäft ging, fragte Hannah Gabrielle, ob sie die Zeit hätte, sich mit ihr nach der Arbeit auf einen Kaffee zu treffen. Derartige soziale Kontakte hatten zuvor nicht stattgefunden, und das andere Mädchen taxierte sie mit unverhohlener Überraschung und Neugierde.
»Sicher«, sagte Gabrielle schließlich, »aber lass uns einen Drink nehmen.«
Sie trafen sich in einer Bar einige Blocks weiter. Gabrielle bestellte ein Bier, Hannah ein Ginger Ale. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas in die Hand nahm, und sie stellte es sofort wieder ab. Was wäre, wenn sich Gabrielle entschied, sie anzuzeigen? Was, wenn sie es ihrem Arbeitgeber erzählte? Hannah konnte das nicht riskieren. Sie war gerade dabei, sich eine entsprechende Erklärung für die Einladung auszudenken, als Gabrielle sagte: »Du hast Schwierigkeiten?«
»Nicht ich«, sagte Hannah. »Eine Freundin von mir.«
»Was für Probleme hat sie?«
Hannah gab keine Antwort. Sie konnte die Worte nicht aussprechen.
Gabrielle sah auf das Ginger Ale, dann wieder auf Hannah. »Die Freundin von dir – wurde sie geschwängert?«
Hannah nickte, und ihr rutschte das Herz in die Hose.
»Und?«, fragte Gabrielle. Wachsam, abwartend.
»Sie möchte es nicht haben.«
»Warum erzählst du das mir?«
»Ich dachte, du wüsstest … du kennst jemanden, der ihr helfen könnte.«
»Und ich dachte, so etwas wäre gegen deine Religion.«
»Meine Freundin kann das Baby nicht bekommen, Gabrielle. Sie kann nicht .« Hannah versagte die Stimme.
Gabrielle schaute sie einen Moment an. »Ich wüsste vielleicht jemanden«, sagte sie. »Wenn sie sich sicher ist. Sie muss sich wirklich sicher sein.«
»Das ist sie.« Und Hannah war in diesem Moment völlig sicher, qualvoll sicher. Sie konnte dieses Baby nicht in diese Situation
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