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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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bringen, in diese Welt, in der sie und Aidan lebten. Sie begann zu weinen.
    Gabrielle ergriff über den Tisch hinweg Hannahs Hand und drückte sie. »Es wird alles gut werden.«
    Sie musste mehrere Telefonate führen, und jedes für sich war für Hannah eine kleine Schreckensübung. Doch schließlich sprach sie mit einer Frau, die ihr eine Adresse gab und genaue Instruktionen, wie sie sich zu verhalten habe, wenn sie dort sei. Sie nannte ihr den Namen des Mannes, der den Abbruch vornehmen würde: Raphael. Es handelte sich offensichtlich um ein Pseudonym, und Hannah musste sich angesichts dieser Dissonanz schütteln. Warum nannte sich ein Abtreiber nach dem Erzengel, der doch heilte? Als sie sich danach erkundigte, ob Raphael ein richtiger Arzt sei, hängte die Frau auf.
    Der Termin war um sieben Uhr abends im Norden von Dallas. Hannah nahm den Zug nach Royal Lane, dann den Bus zu der Apartmentanlage und kam rechtzeitig an. Verfroren stand sie auf dem Parkplatz und starrte ängstlich auf das Apartment mit der Nummer 122. Die Nachrichten im Video waren voller Schreckensgeschichten über Frauen, die vergewaltigt und von Kurpfuschern, die sich als Ärzte ausgaben, beraubt wurden. Von Frauen, die verblutet oder an einer Infektion gestorben waren, von Frauen, die man narkotisiert hatte, um ihnen Organe zu entnehmen. Zum ersten Mal fragte sich Hannah, was an diesen Geschichten wirklich stimmte und was reine Erfindung war und vom Staat als Abschreckung in Umlauf gebracht wurde.
    Die Fenster von Nummer 122 waren dunkel, doch in der Wohnung daneben brannte Licht. Hannah konnte die Bewohner nicht sehen, doch sie konnte sie durch das offene Fenster hören, ein Mann, eine Frau und mehrere Kinder. Sie aßen gerade zu Abend. Sie hörte das Klirren ihrer Gläser, das Kratzen des Bestecks auf den Tellern. Die Kinder fingen an zu quengeln, und die Mutter schalt sie mit müder Stimme. Das Gezänk ging unvermindert weiter, bis der Mann dröhnte: »Jetzt reicht es!« Hannah hörte einen kurzen Seufzer, und dann war das Gespräch zu Ende. Es war das Gewöhnliche dieser häuslichen Szene, das Hannah am Ende bewegte, über den Parkplatz zu gehen.
    Sie ging in die Wohnung, ohne zuvor anzuklopfen, und schloss die Tür hinter sich. Sie ließ sie unverschlossen, wie die Frau ihr gesagt hatte. »Hallo?«, flüsterte sie. Sie bekam keine Antwort. Im Innern war es stockdunkel und stickig heiß, doch man hatte sie davor gewarnt, ein Fenster zu öffnen oder das Licht anzustellen.
    »Ist jemand da?« Keine Antwort. Vielleicht ist er nicht gekommen, dachte sie halb hoffnungsvoll, halb verzweifelt. Sie wartete im stickigen Dunkel einige lange, ängstliche Minuten und fühlte, wie der Schweiß nach und nach ihre Bluse durchtränkte. Sie wollte gerade wieder gehen, als die Tür aufging und ein großer Mann hineinschlüpfte und die Tür viel zu schnell wieder schloss, als dass Hannah einen Blick auf sein Gesicht hätte werfen können. Das geräuschvolle Klicken des Schließriegels ließ ihre inneren Alarmglocken läuten. Sie machte eine wilde Bewegung in Richtung Tür, als plötzlich eine Hand ihren Arm ergriff.
    »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er sanft. »Ich bin Raphael. Ich will Ihnen nichts tun.«
    Es war die Stimme eines alten Mannes, eine erschöpfte und freundliche Stimme, und ihr Klang beruhigte sie wieder. Er ließ ihren Arm los, und sie hörte, wie er durch den Raum zum Fenster ging. Ein Lichtschein fiel von draußen herein, als er den Vorhang öffnete und zum Parkplatz spähte. Er blieb einige Zeit am Fenster stehen, um zu beobachten, was dort vor sich ging. Schließlich zog er den Vorhang wieder zu und sagte: »Kommen Sie hier entlang.«
    Ein Lichtstrahl war zu sehen, und sie folgte ihm durch das Wohnzimmer einen kurzen Flur entlang in ein Schlafzimmer. Auf der Türschwelle zögerte sie.
    »Kommen Sie rein«, sagte Raphael. »Es ist alles in Ordnung.« Hannah betrat den Raum und hörte, wie er die Tür hinter sich schloss. »Licht an«, sagte er.
    Raphael, so konnte sie jetzt sehen, sah gar nicht wie Raphael aus. Er war übergewichtig und nicht besonders stattlich, er hatte krumme Schultern und sah geistesabwesend und zerzaust aus. Sie schätzte ihn auf Mitte sechzig. Sein breites fleischiges Gesicht besaß rote Wangen und war merkwürdig flach, und seine Augen waren rund und verschleiert. Krause, graue Haarbüschel ragten an jeder Seite eines ansonsten kahlen Kopfes hervor. Irgendwie erinnerte er Hannah an Bilder von Eulen, die sie

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