Die Geächteten
passte es nicht, dass so eine tiefe Stimme aus einem so kleinen Körper kam. »Hannah und Kayla, stimmt’s, oder habe ich da etwas verwechselt?«
Hannah ließ sich nicht täuschen, der Verstand hinter diesen schlauen Augen wusste ganz genau, wer von ihnen wer war. Und wahrscheinlich auch alle anderen Details, die es über sie zu wissen gab. Doch sie spielte mit und sagte: »Gut geraten. Nett, dich kennenzulernen.«
Stanton nickte ihr freundlich zu. Er war nicht nur klein, sondern auch ziemlich rundlich. Er hatte einen kleinen, runden Kopf mit einem kleinen, runden Mund, über dem ein gepflegter Bart stand, und seine kleinen, runden Vogelaugen schauten durch eine kleine, runde rosa gefärbte Drahtbrille. Er war elegant gekleidet: Er trug schwarze Wollhosen und einen schwarzen Kaschmirpullover, und keines von beiden konnte seinen kleinen, runden, vorstehenden Bauch kaschieren. Und trotzdem ist er nicht unattraktiv, dachte Hannah, als sie sah, wie er Kayla begrüßte. Er besaß eine kultivierte, gewandte Art, die sehr verführerisch war – wobei das Wort »gewandt« eigens hätte dafür erfunden werden können, um ihn zu beschreiben.
Hannah hörte auf, ihn anzustarren, und warf einen Blick auf die Umgebung. Sie befanden sich in einer alten, leicht baufälligen Holzgarage, allerdings ohne das anheimelnde Durcheinander, das in der Garage von Anthony und Susan geherrscht hatte. Die Garage war völlig leer, bis auf zwei Autos: die unscheinbare Limousine, mit der sie hergefahren waren, und ein altmodisches dunkelgrünes Gebilde, das die Form eines Projektils besaß. Die kurvenreiche Schönheit seiner Linien veranlasste Hannah, das Blech zu berühren.
»Das ist ein Jaguar XK-E von 1975«, sagte Stanton. Als würde er ihr Begehren spüren, strich er mit einer kleinen, manikürten Hand betont lässig über die Motorhaube. »Er läuft noch mit Benzin. Es kostet Unmengen, damit herumzufahren, aber ich könnte es nicht ertragen, das Auto auf Elektro umzustellen.« Er drehte sich zu den beiden Frauen um und sah sie an, seine schwarzen Augen glänzten dabei wie zwei Perlen. »Ich schätze, ihr braucht eine warme Mahlzeit und eine Dusche. Nehmt eure Sachen und kommt mit mir.« Er deutete auf den Boden hinter ihnen, und Hannah sah die beiden Rucksäcke, die Anthony ihnen an diesem Morgen ausgehändigt hatte und die an das Hinterrad der Limousine gelehnt waren. Sie streifte ihren über und empfand sein Gewicht, das gegen ihren Rücken drückte, als angenehm. Obwohl in dem Rucksack nichts von persönlicher Bedeutung war, enthielt er doch die wenigen Dinge, die sie ihr Eigen nennen konnte. Solch ein kleines Ding, das nun ihr ganzes Leben beinhaltete.
Stanton lotste sie zu einer offenen Falltür im Boden hinter dem Jaguar. Eine Metallleiter führte nach unten. »Ladies first«, sagte er und winkte sie voraus. Kayla warf Hannah einen
Was-um-Himmels-willen -Blick zu und kletterte durch das Loch nach unten. Hannah folgte ihr, dann kam Stanton. Die Falltür wurde hinter ihnen mit einem schweren Scheppern geschlossen. Einen Augenblick lang erfüllte das Geräusch Hannah mit der typischen Panik einer gefangenen Kreatur, doch es erinnerte sie auch an etwas, und schließlich fiel ihr ein, an was: an das Geräusch des Tores, das sich hinter ihr an dem Tag geschlossen hatte, als sie aus der Chrom-Station entlassen worden war. Sie rief sich in Erinnerung, dass auch dies hier ein Tor war, ein Tor in die Freiheit – raus aus ihrem roten Körper, ihrem Gefängnis.
Sie gelangten in einen schmalen, gut beleuchteten Tunnel, der mit irgendeiner Art hartem grauen Material verkleidet war. Es schimmerte trüb und war warm, wenn man es anfasste. Die letzten paar Zentimeter sprang Stanton von der Leiter und landete behände neben ihnen. »Irgendwie fühlt sich das an wie in einem James-Bond-Video, nicht?« Er summte einige wenige Takte des Titelsongs, und Hannah konnte nicht umhin zu lächeln, als sie sich diesen schicken, kleinen und bebrillten Mann als 007 vorstellte.
Er führte sie etwa achtzig Meter den Tunnel entlang und blieb dann an einer Stelle stehen, wo es nicht mehr weiterzugehen schien. »Virtute et armis«, sagte er, und eine verborgene Tür öffnete sich. »Das ist das Motto des Staates Mississippi.« Er winkte die Frauen durch die Tür und fügte hinzu: »Die Tür reagiert nur auf meine Stimme, nur für den Fall, dass ihr euch wundert, wenn es bei euch nicht klappt.«
Sie betraten ein fensterloses Schlafzimmer, das vorher der Keller
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