Die Geächteten
nicht einmal mit dem Obergeschoss angefangen, denn ich fürchte mich davor – vor dem ganzen Staub und Dreck und den Arbeitern, die dann hier raus- und reinstapfen.« Er sah ihre verwirrten Gesichter. »Ich schätze, ihr habt noch nie die Hölle auf Erden namens Haussanierung erlebt? Nein? Also, ich kann sie nicht empfehlen.«
Hannah war leicht missgestimmt. Erzähl mir nichts über die Hölle auf Erden , dachte sie und betrachtete seine makellosen Granit-Arbeitsflächen und glänzenden Möbel aus Echtholz.
Doch nachdem sie am Esstisch Platz genommen hatten, war ihre schlechte Stimmung wie weggeblasen. Das Essen war genauso erstklassig wie alles andere unter Stantons Dach, und er war der perfekte Gastgeber. Er führte die Konversation, unterhielt sie mit Geschichten über Columbus und seine bedeutenden Einwohner, zu denen einst auch Tennessee Williams und Eudora Welty zählten. Alles, was Hannah über die beiden wusste, war, dass sie Schriftsteller gewesen und schon lange tot waren. Doch offensichtlich handelte es sich bei ihnen um Kaylas Lieblinge, denn ihr Gesicht erhellte sich, und sie begann mit Stanton eine angeregte Diskussion. Hannah hörte ihrem Gespräch zu. Sie war erfüllt mit Bitterkeit, weil sie so ungebildet war. Hätte sie nicht heimlich Bücher nach Hause schmuggeln und diese häppchenweise hastig und verstohlen lesen müssen und wäre sie auf eine normale Highschool und danach wie Kayla aufs College gegangen, dann wäre sie mit Sicherheit ebenfalls in der Lage zu bestätigen, dass Eudora Welty William Faulkner hätte locker übertreffen können, und sie hätte eine Meinung darüber, ob »Streetcar« oder »The Glass Menagerie« das Meisterstück von Williams gewesen war. Sie hatte stets geglaubt, dass ihre Eltern bei ihr alles richtig gemacht hatten, doch jetzt, wo sie stumm am Tisch saß, brodelte es in ihr, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte. Warum hatten sie ihr Leben so klein gehalten? Warum hatten sie sie nie danach gefragt, was sie sich wünschte? Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, sie erkannte, dass ihre Eltern den Weg gewählt hatten, der sie schwach und abhängig werden ließ. Und die Tatsache, dass sie es gar nicht so gesehen hatten, dass sie aufrichtig geglaubt hatten, alles nur zu ihrem Besten zu tun, machte es nicht weniger wahr und sie nicht weniger schuldig. »Du bist so ruhig, Hannah«, sagte Stanton. »Was denkst du?«
»Ich denke nicht«, brach es aus ihr heraus. »Ich bin dazu nicht erzogen worden.«
Sie errötete, beschämt wegen ihres rüpelhaften Verhaltens, doch Stanton schien sich nicht im Geringsten angegriffen zu fühlen. Ein anerkennendes Funkeln trat in seine Augen, und er erhob sein Weinglas, um mit ihr anzustoßen. »Meine Liebe«, sagte er und lächelte sein glückseliges Kinderlächeln, »willkommen auf der anderen Seite! Etwas in mir sagt, dass du es hier mögen wirst.«
Flüchtige Bilder von Menschen und Dingen, die sie geliebt hatte, tauchten vor ihrem inneren Auge auf, um sofort wieder zu verschwinden und eine nackte, weiße Leere zu hinterlassen. Nichts war da, außer Kayla. Einen Moment lang bildete diese Leere eine klaffende, schmerzende Wunde. Womit in aller Welt sollte sie diese Leere wieder füllen? Und dann dämmerte ihr die Antwort, und sie atmete tief durch. Gäbe man ihr die Möglichkeit, diesen Raum auszustatten – sofern sie die Straße überlebte und nach Kanada kam –, konnte sie ihn füllen, womit sie wollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde es keinerlei Beschränkungen geben. Sie könnte tun und lassen, was sie wollte, und niemand würde ihr sagen, was sie denken dürfe und was nicht.
Sie schenkte Stanton ein Lächeln. »Etwas in mir sagt, dass du recht hast.«
Er räumte den Tisch ab und verweigerte strikt jegliche Unterstützung ihrerseits. »Ihr dürft das Geschirr erst in die Hand nehmen, wenn ihr an meinem Tisch mindestens drei Mahlzeiten gegessen habt. Hausregel. Kann ich euch einen Brandy oder einen Kaffee anbieten? Ich habe auch Kamillentee, wenn ihr den lieber mögt.«
Hannah schauderte und spürte dem Nachgeschmack des Krebses nach. Als sie den angespannten Gesichtsausdruck von Kayla sah, wusste sie, dass ihre Freundin sich wie sie bei dem Gedanken an Kamillentee in den Salon von Mrs. Henley zurückversetzt fühlte. »Kaffee, bitte«, sagte Hannah und sprach für sie beide.
Stanton servierte ihn in einer grazilen Porzellankanne mit dazu passenden Tassen mit Goldrand und Untertassen, dann goss er sich
Weitere Kostenlose Bücher