Die Geächteten
Hochschule, doch dann traf sie im letzten Jahr am College meinen Vater, wer auch immer das war, und sie wurde schwanger.«
»Sie hat es dir nie erzählt?«, fragte Hannah.
»Nein, und soweit ich weiß, hat sie auch ihm nie etwas gesagt. Das war die Zeit, bevor es so etwas wie Vaterrechte gab, versteht ihr? Er nippte an seinem Brandy. »Sie hat ihren Abschluss gemacht, kam zurück nach Columbus, brachte mich zur Welt und schrieb sich an einer Schule für Krankenpflege ein. Meine Großeltern haben mich aufgezogen, mehr oder weniger. Sie dagegen hat ihre Prüfung und dann Karriere gemacht. Sie begann als Schwester für Geburtshilfe und wurde schließlich Hebamme. Als die Gesetze zur Unantastbarkeit des Lebens erlassen wurden, begann sie damit, Abtreibungen vorzunehmen. Damals waren meine Großeltern schon tot, und ich war dreißig Jahre alt und wusste nichts anzufangen, also bin ich wieder nach Hause gezogen, um ihr zu helfen. Ich habe die Termine für sie gemacht – die Frauen überprüft und den Ort ausgesucht –, und sie hat die Eingriffe vorgenommen.«
So hatte Raphael es genannt: den Eingriff. Hannah erinnerte sich daran, wie dieser Begriff und andere gleichermaßen klinische und leidenschaftslose Wörter, die er verwendete, sie beruhigt hatten. In der Rückschau sah sie, dass diese es ihr in Wirklichkeit ermöglicht hatten, das Ganze durchzustehen. Bei einem Eingriff zögerte man nicht lange, geschweige denn quälte sich damit herum, man nahm ihn in Angriff. Ein Eingriff rief kein Bedauern hervor oder erforderte Wiedergutmachung. Doch was war es für ein Unterschied, wenn man den Begriff durch Wörter wie »Mörder« und »Abtreibung« ersetzte. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte, dachte Hannah. Sie hatte ihre Schwangerschaft aus Liebe und Angst und Notwendigkeit beendet. Das war nicht einfach nur ein Eingriff gewesen, aber auch keine Gräueltat.
»Anfangs war die Nachfrage nach Abtreibungen wegen der Großen Geißel eher gering«, sagte Stanton. »Gesunde Frauen versuchten damals, schwanger zu werden, egal ob sie verheiratet waren oder nicht. Die Waisenhäuser waren leer, und kinderlose Paare haben über fünfzigtausend Dollar für ein Baby bezahlt und doppelt so viel, wenn es weiß war.«
Hannah blickte verstohlen zu Kayla. Das Gesicht ihrer Freundin spiegelte höfliche Aufmerksamkeit, doch in ihrem Auge war so ein Flackern, eine Art gelangweilter Unmut. Wie oft musst du derartige Äußerungen gehört haben, bevor man endlich damit aufgehört hat, dich damit zu beleidigen, dachte Hannah.
»Dann haben sie das Heilmittel gefunden«, fuhr Stanton fort, »und bei uns gingen mehr und mehr Anfragen ein. Eine Vielzahl von Scharlatanen und Schlachtern verdiente sich ihr Geld mit Abtreibungen – und verdient es immer noch –, und die Fertigkeiten meiner Mutter sprachen sich immer mehr herum.« Er nahm einen großen Schluck Brandy, und sein Ausdruck wurde nachdenklich und ein wenig wehmütig. »Sie war zu den Frauen so sanft, so einfühlsam, besonders zu den jungen.«
So wie Raphael Hannah gegenüber gewesen war, und trotzdem war es furchtbar gewesen. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, um wie viel schlimmer das Ganze mit einer anderen Art von Arzt geworden wäre.
»Und von denjenigen, die arm waren, hat sie nicht einen Cent genommen. Zu uns kamen die Frauen selbst aus Colorado und Virginia. Und je mehr von ihnen kamen, umso gefährlicher wurde es, aber das ließ Mama noch entschlossener vorgehen.« Gedankenverloren machte er eine Pause, nahm seine Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Ohne Brille sah sein Gesicht eher wie das eines Kindes aus. »Das Ganze wurde noch gefährlicher, als wir uns den Novembristen anschlossen, doch meine Mutter wirkte lebendiger als je zuvor. Ich denke ganz ehrlich, sie hatte das Gefühl, ihre Bestimmung auf dieser Erde endlich gefunden zu haben.«
Stantons Wehmut war unverhüllt, und ihm zuzuhören tat weh. Hannah fragte sich, ob seine Mutter jemals ihm gegenüber diese Aufmerksamkeit, diese Zärtlichkeit gezeigt hatte. Obwohl ihre eigene Mutter es sicher abstreiten würde, hatte Hannah doch immer gewusst, dass sie Becca mehr liebte als sie. Sie hatte sich nicht darum gekümmert, sie hatte ja stets ihren Vater gehabt.
»Wann ist sie gestorben?«, fragte Kayla.
»Im September letzten Jahres an Lungenentzündung.« Seine Stimme war brüchig, und die beiden Frauen murmelten ihr Beileid. »Ich habe ihr gesagt, dass sie zu hart arbeitet, aber sie wollte es
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