Die Geächteten
sie, dass jede dieser Schachteln von ihr selbst gemacht worden war – entweder mit ihrem Einverständnis oder aus mangelnder Widerstandskraft. Sie hatte kein Recht auf Bitterkeit, denn sie hatte sich selbst dort hineinmanövriert. Und sie würde auch von selbst wieder herauskommen, das schwor sie sich. Und wenn sie erst einmal draußen war, würde sie sich in ihrem Leben nie wieder freiwillig in eine Schachtel packen lassen.
Kayla stieß sie sanft an. »He, hörst du mir überhaupt zu?«
»Tut mir leid. Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, ob Aidan deine erste Liebe gewesen ist.«
»Ja, meine erste und einzige.« Hannah erzählte Kayla, wie sie sich im Krankenhaus begegnet waren, von ihrem langen, qualvollen Warten, von ihrem ersten und von ihrem letzten Mal, als sie hinter ihm gelegen hatte, mit ihrem Bauch an seinem Rücken, wissend, dass er seinem Kind nie wieder so nah kommen würde. Sie hatte nie mit jemandem über ihn gesprochen, und je mehr sie erzählte, desto größer wurde die Verletzung, und umso wütender quollen die Worte aus ihr heraus. Kayla hörte zu, nur manchmal murmelte sie Worte der Sympathie. Sie hörte die ganze Geschichte an, bis Hannah, ohne zu weinen, mit dem Augenblick endete, wo sie Aidan im Video gesehen hatte, so lebensfroh und weit entfernt, wissend, dass er für immer gegangen war. Dann war sie still, und obwohl sie sich wie ausgepresst fühlte, war sie doch erleichtert und befreit. Würde die Kofferraumklappe jetzt aufgehen, wäre sie wohl wie ein großer roter Ballon in die Luft gestiegen, so leicht fühlte sie sich.
»Du siehst es nicht, oder?«, fragte Kayla.
»Was sehe ich nicht?«
»Wie stark du bist, dass du eine solche Wahl getroffen hast. Das braucht jede Menge Mut.«
Hannah wollte gerade protestieren, doch Kayla kam ihr zuvor. »Und dass du seine Identität geheim gehalten hast. Und dass du dich den Henleys gegenüber so behauptet hast. Und dass du dich auf die Suche nach mir gemacht hast, als du geglaubt hast, ich sei gekidnappt worden. Und, und, und. Hannah, du bist einer der mutigsten Menschen, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: »Und das heißt, du hast eine echte Chance, das hier zu überleben.«
»Was soll das heißen, ich hätte eine Chance …? Du bist genauso mutig.«
»Pass auf«, sagte Kayla, »ich will mir nicht selbst etwas vormachen. Vincent und Simone könnten Tage oder sogar Wochen brauchen, um einen Weg zu finden, uns zu befreien, und ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so lange haben. Aber du hast die Zeit …«
»Ja, ich Glückliche«, warf Hannah ein. »Ich habe sechs oder mehr großartige Wochen vor mir, um das hier zu genießen.«
»Was ich damit meine, ist«, sagte Kayla scharf, »du hast die Kraft, um zu überleben, bis Simone und Vincent dich holen werden. Denk immer daran, egal wie mies es dir geht.«
»Das werde ich«, sagte Hannah und wunderte sich über Kaylas Art. Normalerweise war ihre Freundin nicht so fatalistisch. Oder so still. »Kayla?«
Ein langes Ausatmen. »Ich bin nicht ganz sicher«, sagte Kayla, »aber ich glaube, bei mir beginnt die Zerstörung.«
DER SALZIGE TANG DES MEERES war das Erste, was ihre Sinne wahrnahmen, als die Kofferraumklappe geöffnet wurde und der Mann sie herauszog. Der plötzliche Lichteinfall ließ sie blinzeln und ihre Augen tränen. Das Zweite, was sie wahrnahm, war ein heftiger Schmerz in ihren Gliedmaßen. Als sie versuchte, auf ihren verkrampften Beinen zu stehen, klappten diese unter ihrem Gewicht zusammen. Der Mann, der ihren Oberarm fest umklammert hatte, zog sie unsanft wieder hoch. Das Dritte und Vierte, was sie wahrnahm, war ein kalter und feuchter Meereswind, der ihr ins Gesicht blies, und ein Gefühl der Weite, das sie nach ihrer Gefangenschaft schwindlig machte. Sie konnte jetzt deutlich das Säuseln des Meeres hören, das war das Fünfte, was sie wahrnahm. Und dann, das war das Sechste, sah sie den golden funkelnden, vom Mondschein erhellten Weg. Das Siebente war die Größe ihres Kidnappers. Er war ein Koloss, ein wandelnder Berg. Das Achte war ein Schmerz im Oberarm, den er nicht umklammert hielt, und danach verschwamm alles wie in einem Kaleidoskop: Die Welt neigte sich, als ein Arm unter ihre Knie griff und ein anderer unter ihren Rücken. Hungrige braune Augen starrten aus einem breiten weißen Gesicht auf sie herab, sie registrierte den Geruch von ungeputzten Zähnen und abgestandenem Kaffee und sah
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