Die Geächteten
Pille, die Pille für den Morgen danach, doch es war schon zu spät. Zwei Monate später wusste ich, dass ich schwanger war. Das war in Québec, bevor wir das Gesetz wieder geändert hatten. Ich habe eine Frau gefunden, die eine Frau kannte, die einen Mann kannte, der Abtreibungen vornahm. Ich habe ihn in einer Höhle getroffen, in einem … Keller eines verlassenen Gebäudes. Dort war es schmuddelig, und er … er war ein Schlachter. Als er es machte«, Simone machte mit einer Hand eine Geste, als wollte sie jemanden erdolchen, »durchbohrte er mich. Danach war ich sehr krank. Ich wäre fast an der Infektion gestorben.« Sie hielt inne. »Manches Mal habe ich mir gewünscht zu sterben.«
Hannahs Lippen versuchten, ein »Es tut mir leid« zu formen, doch es gelang ihr nicht, die Worte auszusprechen, obwohl sie es sich zutiefst wünschte. Diese Frau würde ihr Mitleid nicht haben wollen, würde es zurückschleudern wie eine tote Schnecke. Simone mochte gequält worden sein, doch sie war noch lange kein Opfer. Sie hätte es sich selbst niemals gestattet. Stattdessen hatte sie ihren Zorn genährt und ihn als Brennstoff benutzt, zuerst, um zu überleben, und dann, um anderen Frauen dabei zu helfen. Das ist persönlich . Zum ersten Mal begriff Hannah die Bedeutung dieser Worte. Dabei ging es nicht um die freie Wahl auf Abtreibung oder das Recht auf eine Privatsphäre. Diese Worte waren ein Manifest des Selbstwertgefühls, eine Forderung nach individueller Würde. Deren fundamentale Wahrheit läutete deutlich vernehmbar in ihrem Innern.
»Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist«, sagte sie, verwundert darüber, dass sie plötzlich wieder sprechen konnte. Sie streckte ihre Hand aus und berührte Simones Bein. »Der Tod kann nicht zurückschlagen. Doch wenn wir nicht zurückschlagen, gewinnen sie.«
Halb ging Hannah, halb wurde sie von Simone ins Badezimmer getragen. Simone half ihr, sich auf die Toilette zu setzen, wo sie wie eine Stoffpuppe in sich zusammensackte. Ihr Verstand war bereits ein wenig klarer, doch ihre Gliedmaßen fühlten sich schwer an und waren unkoordiniert. Hannah war so müde, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen.
»Ich denke, wir lassen besser ein Bad ein, non? « Hannah nickte. Was sollte sie auch anderes tun, als Simones Präferenz zuzustimmen? Simone starrte darauf, wie das Wasser einlief, und sagte: »Ich lass dich kurz allein. Klopf an die Tür, wenn du fertig bist.«
»Danke«, sagte Hannah und war dankbar für ein bisschen Privatsphäre. Simone zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich. Auf der Rückseite der Tür befand sich ein Spiegel, direkt gegenüber von Hannah. Eine bedauernswerte Kreatur saß dort zusammengefallen auf der Toilette. Ihr scharlachrotes Gesicht war schlaff, wie ein Luftballon, aus dem die Hälfte der Luft gewichen war. Ihr Haar war verfilzt, ihr Pullover zerrissen und dreckig. Auf einem Knie befand sich verkrustetes Blut. Die Kreatur auf der Toilette weinte, und wer konnte es ihr verdenken, so grässlich und erbärmlich und einsam, wie sie sich fühlte? Doch ihre Tränen, das erkannte Hannah plötzlich, rührten nicht allein von ihrem Elend her.
Es waren auch Tränen der Erleichterung, weil sie noch lebte, weil sie einen weiteren Tag überlebt hatte. Wofür sonst sollte eine derartige Kreatur dankbar sein? Und als sich diese Kreatur nun sah und wusste, dass sie trotz allem weiterleben wollte, weinte sie umso heftiger, schluchzte und war nicht zu trösten, bis sie völlig ausgelaugt war.
Als Hannah an die Tür klopfte, kam Simone mit der Zahnbürste aus ihrem Gepäck. Sie sah Hannahs geschwollene Augen, sagte aber nichts dazu. Sie drückte Zahncreme auf die Bürste, machte sie nass und reichte sie Hannah. Hannah, die immer noch auf dem Klo saß, putzte sich ungeschickt die Zähne. Sie spuckte in einen Plastikbecher, den Simone ihr hinhielt, spülte nach und spuckte wieder aus. Danach trank sie einige Becher Wasser und fühlte sich etwas besser.
»Fertig?«
Hannah nickte und streckte die Arme hoch, und Simone zog ihr den schweißgetränkten Pullover aus. Ihre Berührung war flüchtig und unpersönlich, und sie wandte ihren Blick von Hannahs Körper ab. Hannah fühlte sich trotzdem befangen und musste sich selbst dazu zwingen, sich nicht mit den Händen zu bedecken. Simone half ihr von der Toilette in die Badewanne.
»Brauchst du Hilfe beim Baden?«
»Ich denke, ich schaffe das allein«, antwortete Hannah, doch dann fiel ihr ein, dass sie nicht die
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