Die Geächteten
gesehen hatte.
Er streckte die Hand aus, und sie schüttelte sie ganz automatisch. Genauso, als würden wir uns in unserer Kirche treffen , dachte sie. War das nicht eine wunderbare Predigt, Hannah? Oh ja, Raphael, sie war sehr inspirierend .
Bis auf zwei Klappstühle, einen großen Tisch und einen recht alt aussehenden Ventilator, der zum Leben erwachte, als Raphael ihn anstellte, war der Raum leer. Ein schwerer schwarzer Stoff bedeckte das eine Fenster. Hannah stand unsicher da, als er einen Seesack öffnete, zwei Bettlaken daraus hervorzog und eines davon auf dem Tisch ausbreitete. Es war völlig unpassend mit bunten Dinosauriern bedruckt. Bei ihrem Anblick dachte sie an ihren neunten Geburtstag zurück. Damals waren ihre Eltern mit ihr ins Creation Museum in Waco gegangen. Dort gab es eine Ausstellung über Dinosaurier im Paradies, und eine andere zeigte Noah, wie er die Saurier zusammen mit Giraffen, Pinguinen, Kühen und anderen Tieren auf seine Arche brachte. Hannah hatte gefragt, warum der Tyrannosaurus Rex die anderen Tiere nicht aufgefressen habe oder Adam und Eva oder Noah und seine Familie.
»Nun«, sagte ihre Mutter, »bevor Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, gab es den Tod nicht, denn Menschen und Tiere waren Vegetarier.«
»Aber Noah lebte nach dem Sündenfall«, führte Hannah an.
Ihre Mutter schaute ihren Vater an. »Er war ein schlauer Kopf«, antwortete ihr Vater. »Er nahm nur Baby-Dinosaurier mit auf die Arche.«
»Du Dummkopf«, sagte Becca und stieß hart Hannahs Arm an. »Das weiß doch jeder.«
Becca war Hannahs Barometer, wenn es um das Missfallen ihrer Eltern ging. Der Stoß sollte Hannah klarmachen, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Trotzdem ging das Ganze nicht auf, und Hannah hasste es, wenn Dinge nicht aufgingen. »Aber wie kommt …«
»Stell nicht so viele Fragen«, unterbrach sie ihre Mutter.
»Das mit den Laken tut mir leid«, sagte Raphael und unterbrach Hannahs Gedanken. »Ich habe sie im Ausverkauf erstanden, und es war alles, was sie hatten. Sie sind sauber, ich habe sie selbst gewaschen.«
Er öffnete einen Medizinbeutel, fischte ein Paar Gummihandschuhe heraus und zog sie an, dann begann er medizinische Instrumente aus dem Beutel zu holen und sie auf den Tisch zu legen. Hannah fühlte sich plötzlich benommen und wandte den Blick ab von deren ominösen silbernen Funkeln.
Er zeigte auf einen der Stühle. »Warum setzen Sie sich nicht?«
Sie hatte erwartet, sich sofort ausziehen zu müssen, doch als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, stellte er den anderen Stuhl auf und begann ihr Fragen zu stellen. Wie alt sie sei? Ob sie bereits Kinder habe? Andere Abtreibungen? Wann ihre letzte Periode gewesen sei? Wann ihre Morgenübelkeit angefangen habe? Ob sie jemals schwerwiegende gesundheitliche Probleme gehabt habe? Irgendwelche sexuell bedingten Infektionen? Beschämt sah Hannah auf ihre Hände und murmelte die Antworten.
»Haben Sie irgendetwas anderes getan, um diese Schwangerschaft zu beenden?«, fragte Raphael.
Sie nickte. »Ich habe vor zwei Wochen einige Pillen bekommen und sie geschluckt, aber sie haben nichts bewirkt.« Sie hatte fünfhundert Dollar dafür bezahlt und war den Anweisungen, die man ihr mit auf den Weg gegeben hatte, genau gefolgt, aber nichts war passiert.
»Das müssen Fälschungen gewesen sein. Über die Hälfte dieses Zeugs ist falsch. Was auch immer Sie bekommen haben.« Raphael machte eine Pause. »Sehen Sie mich an, Kind.«
Hannah erwiderte seinen Blick und erwartete einen richterlichen Spruch. Stattdessen sah sie zu ihrer Überraschung Mitgefühl. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie diese Schwangerschaft beenden möchten?«
Da schwang wieder dieser Satz mit: »Bring dein ungeborenes Baby nicht um« oder »Du zerstörst ein unschuldiges Leben«, aber auch »Beende diese Schwangerschaft«. Wie einfach das schien, wie unbedeutend. Raphael beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. So dicht vor ihm konnte sie das feine Netzwerk dünner verletzter Blutgefäße sehen, das sich auf seinen Wangen befand.
»Ja«, sagte sie. »Ich bin mir sicher.«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen den Eingriff erkläre?«
Ein Teil von ihr wollte Nein sagen, doch bevor sie sich entschlossen hatte, hierher zu gehen, hatte sie sich geschworen, dass sie nicht vor der Wahrheit dessen, was hier passieren würde, weglaufen wollte. Sie schuldete es diesem kleinen Fetzen Leben, das niemals ihr Kind sein würde. Sie hatte es nicht gewagt, im
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