Die Geächteten
Polizei hatte sie nach dem Anruf eines argwöhnischen Nachbarn auf dem Parkplatz aufgegriffen, doch Raphael war zu diesem Zeitpunkt schon lange weg. Und soweit ihr bekannt war, hatte man ihn nie gefasst. Sie hatte ihnen eine falsche Beschreibung gegeben, und damit gewartet, bis sie sie zum dritten Mal befragt hatten. Sie hatte ihn als schlanken, blonden Mann in den Dreißigern mit einem Earth-First-Tattoo am rechten Handgelenk beschrieben. Was Hannah jedoch nicht wusste, war, dass die Nachbarn gesehen hatten, wie ein korpulenter alter Mann die Wohnung verlassen hatte. Nachdem die Polizei sie beim Lügen erwischt hatte, war sie gnadenlos geworden. Immer wieder befragte man sie, manchmal recht barsch, dann wiederum mit einer betont salbungsvollen Sorge um ihr Wohlergehen, was selbst ein Erstklässler durchschaut hätte. Sie blieb gegen den Rat ihres Anwalts und trotz des Flehens ihres Vaters bei ihrer Geschichte. Sie wollte Raphael mit seinem ehrlichen Händedruck und den traurigen Augen nicht verraten.
Natürlich hätte sie es tun können. Er hatte ihr gewiss genug über sich erzählt, damit die Polizei ihn hätte identifizieren können. Als er fertig war und saubergemacht hatte und Hannah von den Schmerzmitteln noch ganz benommen war, hatte sie ihn gefragt, warum er dies tue. Was sie meinte, aber nicht sagte, war: Wie verkraften Sie das alles? Zu diesem Zeitpunkt hatte Raphael schon mehrere Schlucke aus der Flasche genommen und war in sehr redseliger Stimmung. Er erzählte ihr, dass er als Oberarzt der Gynäkologie in Salt Lake City tätig gewesen war, als die wahnsinnige Tripper-Pandemie ausbrach (dieser unkonventionelle Ausdruck verwirrte sie, in ihrer Welt wurde stets von »der Großen Geißel« gesprochen), und wie Utah zum Nexus der konservativen Gegenreaktion (»die Bereinigung«) wurde, was zur Aufhebung der Grundsatzentscheidung Roe v. Wade führte, wonach die meisten bestehenden Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch das Recht auf Privatsphäre verletzten. Der Entschluss war im Haus der Paynes gefeiert worden, doch Raphael sprach voller Zorn darüber und nannte die Gesetze über die Unantastbarkeit des Lebens, die in Utah sofort danach erlassen wurden, einen Skandal. Und das nicht nur, weil es nun keine Ausnahmen für Vergewaltigung, Inzest oder das gesundheitliche Wohl der Mutter mehr gab, sondern auch weil die Schweigepflicht des Arztes abgeschafft wurde. Fortan war er vor dem Gesetz verpflichtet, die Polizei zu informieren, wenn er Anzeichen dafür entdeckte, dass eine Patientin bereits eine Abtreibung hinter sich hatte. Moralisch jedoch fühlte er sich dazu nicht verpflichtet. Und seine Moral behielt die Oberhand. Nachdem er die Ergebnisse von Beckenuntersuchungen gefälscht hatte, entzog ihm der Staat die Lizenz, als Arzt zu arbeiten. Und er ging von Salt Lake City nach Dallas.
Hannah war dreizehn gewesen, als man in Texas eine eigene Version der Gesetze über die Unantastbarkeit des Lebens erließ. Nicht viele Ärzte hatten in der Öffentlichkeit demonstriert, aber diejenigen, die es getan hatten, hatten dies lautstark getan. Sie konnte sich noch an ihre leidenschaftlichen Aussagen vor der Legislative erinnern und an ihre wütenden Reaktionen, als die Gesetze, die mit denen in Utah nahezu übereinstimmten, schließlich das Parlament passierten. Die meisten Gegner hatten aus Protest Texas verlassen, und ihre gleichgesinnten Kollegen in den anderen vierzig Staaten, in denen man beabsichtigte, ähnliche Statuten zu erlassen, zogen nach. »Die wären wir los. Kalifornien und New York können sie haben«, hatte ihre Mutter gesagt, und Hannah hatte damals ähnlich empfunden. Wie konnte jemand schwören, Leben zu bewahren, und stillschweigend dulden, dass es genommen wurde, und gleichzeitig begehren, diejenigen, die es nahmen, zu schützen. Insbesondere, wenn die Zukunft der menschlichen Rasse auf dem Spiel stand? Sie erlebten jetzt das dritte Jahr der Geißel, und obwohl niemand in Hannahs Nähe diese Krankheit hatte, waren sie doch alle infiziert – von Furcht und Verzweiflung davor, dass die Welt vor dem Abgrund stand. Immer mehr Frauen wurden unfruchtbar, und die Geburtsraten rutschten in den Keller. Die Tatsache, dass Männer Überträger waren, aber selbst nur wenige Symptome oder Folgeschäden zeigten, erschwerten die Bemühungen, die Krankheit aufzuspüren und einzudämmen. Im vierten Jahr der Pandemie ging Hannah wie jede andere Amerikanerin zwischen dem zwölften und sechzehnten Lebensjahr zum
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