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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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Internet Recherchen anzustellen, denn die Internetbehörde von Texas überwachte die Eingabe bestimmter Wörter und Inhalte, und Abtreibung stand ganz oben auf der Liste. »Ja, bitte.«
    Raphael zog eine kleine Flasche aus seiner Tasche, schraubte den Deckel ab und nahm einen Schluck – um seine Hände zu beruhigen, wie er sagte –, und dann beschrieb er, was er tun würde. Sein sachlicher Ton und die klinischen Begriffe, die er benutzte – »Spekulum« und »Dilatator« und »Schwangerschaftsgewebe« –, ließen das Ganze sauber und unpersönlich klingen. Schließlich fragte er Hannah, ob sie noch etwas wissen wolle. Sie hatte im Geiste bereits alle Fragen gestellt und beantwortet: Ob es sich um Mord handeln würde (ja), ob sie dafür in die Hölle komme (ja), ob sie irgendeine andere Wahl habe (nein). Bis auf eine, und das hatte sie innerlich aufgewühlt, seitdem sie den Entschluss zur Abtreibung gefasst hatte. Sie stellte sie nun, während sich ihre Nägel in die Unterseite des Stuhles gruben.
    »Wird es einen Schmerz empfinden?«
    Raphael schüttelte den Kopf. »So wie Sie es mir erzählt haben, sind Sie erst in der zwölften Schwangerschaftswoche. Es ist wissenschaftlich nicht erwiesen, wann die fetalen Schmerzrezeptoren zum Leben erwachen, aber ich kann Ihnen versichern, dass das vor der zwanzigsten Schwangerschaftswoche völlig unmöglich ist.« Ihre Schultern sackten in sich zusammen, und Raphael fügte hinzu: »Doch für Sie wird es schmerzhaft sein. Das Ausschaben kann sehr wehtun.«
    »Um mich mache ich mir keine Sorgen.« Hannah wünschte sich sogar, dass es wehtat. Es schien ihr skrupellos, ein Leben zu nehmen und dabei keinen Schmerz zu empfinden.
    Raphael stand auf und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Ziehen Sie sich nun aus«, sagte er. »Nur unterhalb der Taille. Dann legen Sie sich mit dem Kopf an diesem Ende auf den Tisch. Sie können das zweite Laken nehmen, um sich zuzudecken.
    Er ging in das Badezimmer nebenan und schloss die Tür, um ihr Privatsphäre zu lassen – dieser Mann, der kurz davor war, zwischen ihre gespreizten Beine zu gucken. Trotzdem war Hannah dankbar für seine Diskretion. Sie faltete sorgfältig ihren Rock zusammen, legte ihn auf den Stuhl und schob anschließend ihren Slip darunter. Ein kleines bisschen Schicklichkeit, das unter diesen Umständen skurril war, aber so war es nun mal. Von der Taille an abwärts war sie nackt, und irgendwie fühlte sie sich schmutziger, als wenn sie völlig nackt gewesen wäre. Schnell ging sie zum Tisch und bedeckte sich. Dann zwang sie sich zu sagen: »Ich bin bereit.«
    Der Bestrafungston erklang und warf sie wieder in ihre Zelle zurück, zurück in ihren blutenden Körper. Alles läuft aufs Blut hinaus , dachte sie, als sie die Tampons und die Wischtücher aus der Vorrichtung nahm und sie benutzte. Blut, das aus dir kommt, und Blut, das nicht aus dir kommt . Mechanisch säuberte sie den Boden, spülte die fleckigen Tücher hinunter, wusch ihre Hände und wechselte ihr Hemd. Dabei machte sie keinerlei Versuch, ihre Nacktheit zu verbergen. Und wenn es nicht kommt, wenn du wartest und betest und weiter wartest, und es kommt immer noch nicht … Sie legte sich seitlich auf ihre Pritsche, schlang die Arme um ihre Knie und weinte.

 
    WIE VIELE TAGE WAR SIE SCHON HIER? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? Sie wusste es nicht, und das machte ihr Angst. Es gab Zeitlücken, über die sie nichts sagen konnte, Momente, in denen sie aus einem Schlaf aufzuwachen schien, obwohl sie geglaubt hatte, gar nicht geschlafen zu haben. Sie kam dann verschwitzt und heiser aus einer Zauberwelt heraus – mit dem Gefühl, den Mund mit Watte voll zu haben. Hatte sie laut mit sich selbst geredet? Etwas preisgegeben, das sie besser für sich behalten hätte?
    Sie versuchte die Trance durch Lesen und Laufen loszuwerden, doch mit der Zeit fühlte sie sich zu lustlos – für beides. Ihr Spiegelbild zeigte eine hagere Gestalt. Sie hatte keinen Appetit, und sie hatte die Fähigkeit entwickelt, den Bestrafungston so weit auszublenden, als wäre es ein fernes, lästiges Geheule, so wie ein Moskito, der am Ohr vorbeifliegt. Sie hatte mit dem täglichen Duschen aufgehört, und ihr Körper stank nach abgestandenem Schweiß, doch selbst das war ihr gleichgültig geworden. Ihre gewohnte Sorgfalt hatte sich mit ihrer Energie in Luft aufgelöst.
    Wenn sie einen klaren Moment erlebte, hatte sie die größte Angst davor, etwas gesagt zu haben, das Raphael betraf. Die

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