Die Geächteten
ersten Mal zur obligatorischen halbjährlichen Vorsorgeuntersuchung. Viele sollten folgen. Im siebenten Jahr der Seuche fand man endlich das Heilmittel. Doch zuvor war von Quarantäne die Rede gewesen und davon, dass man die gesunden Eier gesunder junger Frauen obligatorisch entnehmen müsse – eine Maßnahme, der der Kongress mit Sicherheit zugestimmt hätte, wäre das Antibiotikum nur kurze Zeit später entdeckt worden. So besorgniserregend diese Vorstellung auch gewesen sein mochte, Hannah war sich voll bewusst, dass sie bereits gewaltsam befruchtet worden wäre, hätte sie in einem Land wie China oder Indien gelebt. Das Überleben der Menschheit forderte Opfer von jedem, moralisch genauso wie physisch. Nicht einmal ihre Eltern hatten einen Einwand, als der Präsident die Haut-Verchromung für kleinere Vergehen aufhob sowie alle Gelben unter vierzig Jahren begnadigte und anordnete, auch deren Verchromung aufzuheben und die Implantate zur Geburtskontrolle wieder zu entfernen. Und als er für die Entführung von Kindern die Todesstrafe bewilligte, trugen Hannahs Eltern auch diese Entscheidung mit, obwohl es gegen ihren Glauben war. Kindesentführungen nahmen so stark zu, dass wohlhabende und selbst Familien aus der Mittelschicht, die kleine Kinder hatten, nur mit Bodyguards reisten. Hannah und Becca waren zu alt, um Zielobjekt zu sein, doch ihre Mutter funkelte jede Frau an, deren Augen zu gierig oder zu lang auf ihnen ruhten. »Denkt immer daran, Mädchen«, sagte sie, wenn sie einer der kinderlosen Frauen begegneten, die wie verlorene Geister auf Spielplätzen und in Parks, in Spielzeuggeschäften und Museen herumhingen, »das liegt nur am Sex außerhalb der Ehe.«
Und das auch , dachte Hannah jetzt, während sie ihr rotes Spiegelbild betrachtete. Sie war sich in früheren Tagen in vielen Dingen so sicher gewesen: dass sie niemals Sex vor der Ehe haben würde, dass sie niemals zu diesen traurigen Frauen gehören würde, dass sie niemals, wirklich niemals ein Kind abtreiben lassen würde. Sie, Hannah, wäre eines solch schrecklichen Fehlverhaltens völlig unfähig gewesen.
Sie war überrascht, dass Raphael es nicht so bezeichnet hatte. Seiner Meinung nach waren die Gesetze über die Unantastbarkeit des Lebens falsch, und diejenigen, die so etwas unterstützten, machten sich in seinen Augen eines Verbrechens schuldig. Seine tiefste Verachtung galt der Mehrzahl von Ärzten – nicht nur denjenigen, die diese Gesetze unterstützt und sie gefordert hatten, sondern auch denjenigen, die vor Furcht stumm geblieben waren. Als Hannah ihn fragte, weshalb er in Texas geblieben sei, statt in einen der Pro-Roe-Staaten zu gehen, schüttelte er den Kopf und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Ich hätte es besser getan, doch ich war jung und hitzköpfig, habe mich selbst als Revolutionär gesehen. Man hat mich überredet hierzubleiben.«
»Wer?«
Raphael erstarrte und wandte sich sichtlich erregt von ihr ab. »Ich meine sie, meine Frau. Sie stammt von hier. Sie wollte in der Nähe ihrer Schwester bleiben, sie verstehen sich sehr gut.« Er tastete herum, um seine Tasche zu schließen, und Hannah musste gar nicht erst den nackten vierten Finger seiner linken Hand ansehen, um zu wissen, dass er gelogen hatte.
Sie fühlte einen dumpfen Krampf in ihrem Unterleib und umklammerte ihn unwillkürlich.
»Sie werden in den nächsten Tagen noch des Öfteren Krämpfe und Blutungen haben«, sagte Raphael. »Nehmen Sie Tylenol gegen den Schmerz, nein, Ibuprofen oder Aspirin. Und legen Sie sich hin, so oft Sie können.«
Er ging zur Tür und hielt mit der Hand auf dem Griff inne. »Das Geld. Haben Sie es dabei?«
»Ja, natürlich, entschuldigen Sie. Hannah sah in ihren Geldbeutel, nahm die Geldautomatenkarte heraus, die sie am Morgen gekauft hatte, und reichte sie ihm. Er steckte sie in seine Tasche, ohne den Betrag nachzuprüfen.
»Licht aus«, sagte er. Der Raum wurde schwarz. Hannah hörte, wie er die Tür öffnete und laut ausatmete, was sich wie Erleichterung anhörte.
»Warten Sie zehn Minuten, dann können Sie gehen.«
»Raphael?«
»Ja?«, sagte er ungeduldig.
»Denken Sie so über sich? Sind Sie ein Heiler?«
Er antwortete nicht direkt, und Hannah fragte sich, ob sie ihn beleidigt hatte. »Ja, meistens«, sagte er schließlich. Sie hörte, wie er die Wohnung durchquerte, dann wurde der Riegel umgedreht, und die Haustür schloss sich hinter ihm.
»Danke«, sagte sie in die dunkle Leere.
Mit einem Mal war die Zelle
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