Die Geächteten
der Unkenntnis.
Nachdem sie wieder miteinander geschlafen hatten, sagte Aidan: »Ich muss dich bald verlassen. Ich muss nach Hause und es Alyssa erzählen.«
Hannah lag mit dem Kopf in seiner Schulterbeuge. Dort war es behaglich, wie für sie gemacht, wie eine Kugel in der Gelenkpfanne.
Doch der Platz war nicht für sie gemacht.
»Nein«, sagte sie ruhig. »Das ergibt keinen Sinn.«
Abrupt setzte er sich auf und gab ihren Kopf frei. »Was meinst du damit?«
Sie setzte sich ebenfalls auf und sah ihn in der Dunkelheit an. »Diese Leute, von denen ich dir erzählt habe, diese Leute, die mich vor den Faustkämpfern gerettet und mir eine Straße angeboten haben … ich musste ihnen schwören, niemals wieder mit Menschen aus meinem früheren Leben in Kontakt zu treten. Niemals.« Sie spürte, wie er vor der Last ihrer Worte zurückwich und wie diese in der Dunkelheit über ihnen schwebten . Entzweit , dachte sie.
»Unsinn. Das können sie nicht von dir verlangen.«
»Aidan, wenn sie herausfinden, dass ich mit dir gesprochen habe, geschweige denn, dich gesehen habe, werden sie uns beide töten. Und wenn du mit mir kommst, werden sie das irgendwann herausfinden, egal, wohin wir gehen. Es gibt keinen Ort, an dem wir uns verstecken können.«
Stille. »Es liegt daran, wer ich bin«, sagte er schließlich. Hannah hatte seine Stimme noch nie so bitter klingen gehört. Sie wollte ihn trösten, doch sie hielt sich zurück.
»Es muss irgendwo möglich sein«, insistierte er. »Auf einer weit entfernten Insel Asiens oder Afrikas, wo sie noch nie von mir gehört haben.«
»Es ist zu gefährlich«, sagte sie. »Ich möchte dich dem nicht aussetzen.«
Doch einen Augenblick lang zog sie es in Erwägung, hatte die Vision, wie sie beide in einer Hängematte unweit einer rustikalen Hütte im Dschungel lagen, umgeben von Regenwald und einem himmelblauen Meer. Ihr Kopf in seiner Schulterbeuge, ihr Arm über seiner Brust, ihre Beine ineinander verschlungen. Adam und Eva vor dem Sündenfall. Ohne den Tyrannosaurus Rex.
»Die Gefahr ist mir egal«, sagte er.
Die Vision flimmerte auf und schmolz dahin, ein letztes Hirngespinst, gewürdigt und verschwunden.
»Aber mir nicht«, sagte Hannah. »Ich kann nicht mein ganzes Leben auf der Flucht sein.«
Das war die Wahrheit, allerdings nur ein kleiner Teil davon. Die größere Wahrheit, die sie seit einigen Tagen unterdrückte, stand plötzlich mit einer absoluten Sicherheit und Klarheit im Raum: Falls sie und Aidan jemals zusammengepasst hatten, so passten sie jetzt nicht mehr zusammen. Sie hatte sich zu weit von ihm entfernt, eine unermessliche Distanz in Tagen oder Kilometern lag zwischen ihnen, und schon bald würde sie noch weiter reisen. Dort, wo sie hinwollte, dorthin konnte er ihr nicht folgen, und sie konnte nicht wieder zurück in ihr altes Leben. Sie wollte nicht zurück, nicht zurück in die Welt, in der sie aufgewachsen war, nicht zurück in die Person, die sie einst gewesen war. Die Person, die Aidan sich wünschte, wenn sie bei ihm bleiben würde. Alyssa war seine Elinor: sanft, rechtschaffen, sensibel. Hannah wusste immer noch nicht, wer sie selbst war, doch sie war gewillt, es herauszufinden. Und wenn sie mit Aidan zusammenbliebe, würde ihr das nie gelingen. Sie würde sich nur ein weiteres Mal in eine Schachtel begeben.
Doch das konnte Hannah ihm nicht sagen. Es würde ihn unendlich verletzen, weil er es nicht verstehen würde. Wie sollte er auch, er, der Mann, der er war, der das Leben führte, das er führte? Als er widersprechen wollte, fand sie seinen Mund, legte ihre Finger darauf und sprach mit ihm in der Sprache, die in seiner Welt gesprochen und verstanden wurde.
»Mein Lieber, Gott hat wichtige Arbeit für dich, die du erledigen musst.« Dein Gott, der nicht mehr mein Gott ist . »Deshalb hat Er dich auf diese Welt gebracht: um Menschen durch deinen Glauben zu Ihm zu führen. ›Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen. Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerige zur Ebene. Das alles will ich tun und nicht mehr davon lassen.‹«
Die Henleys hatten die Bedeutung dieser Worte pervertiert, doch jetzt spürte Hannah ihre Schönheit und Kraft. Auf der Welt gab es so viele Menschen, die litten, die Hilfe benötigten, die Hoffnung und ein Licht brauchten. Und Aidan gab es ihnen. Welche Fehler er auch haben mochte, er war ein wahrer Gottesdiener.
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