Die Geächteten
»Du kannst davor nicht weglaufen, Aidan. Nicht für mich und für keinen anderen Menschen auf der Welt.«
»Nein. Ich habe Gott mein Wort gegeben, aber auch dir. Mein Wort, dass ich die Wahrheit ans Licht bringen werde. Dass ich meine Liebe zu dir eingestehen werde, selbst wenn du für mich verloren bist. Das schulde ich dir.«
»Wenn du mir irgendetwas schuldest, dann, dass du deine Aufgabe erfüllst. Wenn du das nicht machst, wirst du den Glauben und die Hoffnung Tausender Menschen erschüttern.« Auch den meiner Eltern und den Beccas .
Aidans Körper war noch immer steif und rebellierte. »Und du erschütterst meinen Glauben und meine Hoffnung«, fügte Hannah hinzu. »Wenn die Presse meinen Namen kennt, bin ich vogelfrei. Mein Bild wäre in allen Videos zu sehen. Wenn mich irgendjemand erkennt und sich verpflichtet fühlt, mich der Polizei zu melden, wird er es tun.«
Eine sehr lange Zeit schwieg Aidan. Sie wartete, streichelte seine Stirn, versuchte, den Schmerz und die Verwirrung, die unter ihrer Hand wüteten, zu mildern. Er stieß einen großen Schwall Luft aus, aus dem sie Erschöpfung und Kapitulation heraushörte.
»Du hast natürlich recht«, sagte er. »Es ist befreiend, wenn dein Weg am Ende klar wird, nicht?« Seine Stimme hatte etwas von einem Schwan, der über einen See gleitet, vom Gesicht Marias, die auf ihr Baby blickt.
Hannah runzelte die Stirn und hörte ein Echo der Videomail, die er ihr gesandt hatte: »Du willst also damit sagen, dass du es nicht tun wirst?«
Seine Hand streichelte ihre Wange. »Ich werde nie wieder etwas tun, das dich in Gefahr bringt.« Sie wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen. Sie traute dieser spiegelglatten Ruhe nicht. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest. »Versprich es mir.«
»Ich werde dich nicht enttäuschen, meine Liebe, ich verspreche es. Du bist mein besserer Engel.« Er zog sie hinunter in seine Umarmung und streichelte ihren Rücken, ihr Haar, ihre Arme. Er wollte sich an all das erinnern, das wusste sie. Von seiner Berührung beruhigt, gab sie sich ihrer Erschöpfung hin und fiel in einen Schlaf, genau wie an jenem Oktobertag im Auto. Das war so lange her.
Doch als sie dieses Mal aufwachte, war er nicht mehr an ihrer Seite. Sie versuchte, etwas zu hören. Doch es war still im Haus. Sie spürte die Leere des Hauses als Echo in den Kammern ihres Herzens. Gegangen, gegangen, gegangen . Dieses Mal für immer.
Die Tür zum Schlafzimmer war offen, und die Dunkelheit wurde durch das zaghafte violette Licht des Staubes, der vom Flur hereindrang, durchbrochen. Sie griff nach der Taschenlampe, doch sie war nicht mehr auf dem Nachttisch, wo sie sie hingelegt hatte. Sie riskierte es, das Licht anzumachen, und sah die Taschenlampe auf Aidans Kopfkissen liegen. Darunter befand sich eine Nachricht.
Hannah, mein Liebling,
von Gottes großartiger Schöpfung bist
du das Allerschönste für mich.
Ich liebe dich, jetzt und mein ganzes Leben lang.
– Aidan
Als sie die Zeilen las, musste Hannah weinen, sie drückte den Zettel mit beiden Händen an ihre Brust, auf die keine brennenden Wachstropfen gefallen waren, um sie zu warnen.
Sie fuhr ins Weiße: kalt, rein, fremd, schön. Je weiter sie nach Norden kam, desto mehr hatte die Landschaft etwas von all diesen Dingen. Und obwohl sie für Hannah absolut fremd war, fühlte sie sich davon nicht bedroht. Wenn diese weiße Landschaft sie mit irgendetwas vorwärts, weiter nach Norden, lockte, so bestimmt nicht mit einer Tabula rasa, allenfalls mit der Chance auf einen Neubeginn. Ein neues Leben, ohne Aidan, ohne ihre Eltern, ohne Becca.
Während sie weiterfuhr, beklagte sie ihren Verlust, auch wenn sie die Notwendigkeit einsah. Ihre Familie würde sie nicht mehr wiedererkennen. Und wenn sie die ganze Wahrheit wüsste, wäre sie schockiert über die Person, die aus ihr geworden war, und sie würde es ihrer Familie verübeln und sich an den Einschränkungen aufreiben, mit denen sie ihrer Ansicht nach leben müsste. Nein, es war besser, sie hielten sie für tot. Und es war besser, dass Aidan mit seiner Frau in seiner Welt blieb, in einer Welt, die nichts mehr mit der Welt gemein hatte, die Hannah sich in Kanada aufbauen zu können hoffte. Sie dachte an die weiße Leere, die sie sich bei Stanton vorgestellt hatte, den Raum, den sie nach ihrem Geschmack und ihren Wünschen einrichten wollte. Aidan wäre unsicher und dort fehl am Platz, und ihre Eltern würden noch nicht einmal über die Türschwelle treten.
Kayla
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