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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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dich zu vergessen.
    Eine Zeit lang schien es, als hätte er sie vergessen. Der Sommer machte dem Herbst Platz, und die Temperatur fiel schließlich unter zwanzig Grad. Und als die ersten Holos von umherspringenden Skeletten und Hexen auf Besenstielen auf dem Rasen des nachbarlichen Vorgartens auftauchten, begannen Hannahs Erinnerungen an Aidan langsam zu verblassen. Übrig blieben verschwommene Bilder, als wären sie hinter Tüllschleiern verborgen. Sollte er jemals etwas für sie empfunden haben – und sie zweifelte mehr und mehr daran, dass es so war –, musste er inzwischen zu Sinnen gekommen sein, genauso wie sie selbst es tun musste. Selbst der Gedanke daran, mit ihm, einem verheirateten Mann, einem Mann Gottes, zusammen zu sein, war eine große Sünde. Und so legte sie Wert darauf, in der Bibelstunde neben Will zu sitzen, einem schüchternen jungen Mann, der ihr seit Wochen sehnsüchtige Blicke zuwarf. Und sollte er endlich den Mut haben, sie einzuladen, würde sie die Einladung annehmen.
    Sie hatte bis dahin zwei ernsthafte Freunde gehabt, den einen in ihrem letzten Jahr auf der Highschool und den anderen mit Anfang zwanzig. Beide waren nette junge Männer gewesen, und sie hatte deren Begleitung und Zuwendung genossen. Doch keiner der beiden hatte in ihr irgendetwas Tieferes als Zuneigung ausgelöst, und darauf, eine sporadisch auftretende sexuelle Neugier zu befriedigen, hatte sie keine Lust – nicht mit ihnen. Das reichte nicht. Sie reichten nicht.
    Auch Will nicht, wie sie schon bald feststellte. Auch wenn er es vernünftig betrachtet hätte tun müssen. Er war Tierarzt, süß, schüchtern, lustig auf eine bescheidene Art und Weise. Sie trafen sich seit Mitte Oktober, und Mitte November, als die Eichenblätter mit ihren spitzen braunen Kringeln langsam zu Boden fielen, wusste sie, dass Will mehr wollte, sie aber nicht. »Bitte, Hannah, gib ihm eine Chance«, drängte ihre Mutter sie, und so traf sie sich weiter mit ihm. Er wurde leidenschaftlich, sprach von Liebe, spielte auf die Ehe an. Sie beschwichtigte seine umherstreifenden Hände und lehnte seine Anträge ab. Als sich seine Frustration schließlich in Wut umkehrte, machte sie sich von ihm los, ließ ihn verletzt und orientierungslos zurück, während ihr eigenes Herz völlig unberührt war.
    Aidan hatte ihr Herz nicht unberührt gelassen, das hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst. Lange bevor sie Geliebte wurden, konnte sie voraussehen, dass es ein Danach geben würde und dass dieses Danach schwer auf ihrer beider Seelen liegen würde.
    Trotzdem. Das hatte sie sich nicht vorgestellt: sie als Rote, eine Ausgestoßene, während Aidan sein Leben und seine geistliche Arbeit fortsetzte, mit Alyssa nach Washington zog, um seinen neuen Posten als Minister für Glaubensfragen anzutreten und Millionen von Menschen mit seinen Worten und Beispielen weiterhin zu inspirieren. Hannah wusste, dass er an sie dachte, sie vermisste, tief betrübt war wie sie, weil sie ihr Kind verloren hatten. Sich selbst beschuldigte und quälte mit Was-wäre-wenn-Fragen … Sich womöglich hasste, weil er sich nicht gemeldet hatte.
    Trotzdem.
    Sie sah, wie die Fliege im Raum umherschwirrte. Als sie neben ihr auf dem Boden landete, tötete sie sie mit einem heftigen Schlag ihrer Hand.

 
    ICH BIN JETZT ROT.
    Das war jeden Tag ihr erster Gedanke. Jeden Tag kam er nach einigen wenigen Sekunden vernebelten seligen Nicht-Wissens wieder ans Tageslicht, schwappte durch sie wie eine Welle, um sich in ihrer Brust mit einem klanglosen Getöse zu brechen. Ihr dicht auf den Fersen kam die zweite Welle heran, um auf die Trümmer zu krachen, die die erste Welle hinterlassen hatte. Er ist gegangen . Die erste Welle klang schließlich ab und ließ sich in einem dumpfen Schmerz nieder, doch die zweite bestürmte sie mit unbarmherziger Heftigkeit, rollte alle zehn, alle zwanzig Minuten wieder heran: gegangen, gegangen, gegangen . Und überschwemmte sie erneut mit Trauer. Das Verlustgefühl ließ nicht nach. Es wurde noch stärker, je näher der Tag ihrer Entlassung rückte, noch rauer. Sie fragte sich, wie ihr Herz es aushielt, so viel Schmerz zu ertragen und trotzdem weiterzuschlagen.
    Wenn er nur hier wäre, dann könnte ich zu ihm gehen . Der Gedanke war absurd, eine kindliche Fantasie, und auch wenn sie ihn sogleich wieder beiseiteschob, verweilte sein Geist in ihr, wanderte umher in den Nischen ihrer Gedanken und brachte Erinnerungen an das erste Mal, als sie sich mit ihm traf, wieder

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