Die Geächteten
der Lastwagen –, und verließen das Büro. Alyssa ging voran durch die Tür. In der letzten Sekunde drehte Aidan den Kopf, um noch einen Blick auf Hannah zu werfen. Hannah empfand ein seltsames Gefühl, als würde er sie an einem Band zu sich heranziehen. Ihre Augen trafen sich, blieben aufeinander gerichtet, um sich dann gleichzeitig wieder zu lösen.
So , dachte sie. So .
Danach begann erst die wahre Folter. Aidans Verhalten Hannah gegenüber war unverändert, doch was ihr Zusammenspiel anbetraf, so war es belasteter als je zuvor. Hannah wusste jetzt, dass sie nicht die Einzige war, die litt. Auch er litt. Sie fühlten sich immer mehr zueinander hingezogen, zögerlich, uneingestanden, doch unverkennbar. Hannah empfand diese Zeit fast so wie eine Schwangerschaft, eine Zeit, in der sie beide warteten, in der sie beide gleichermaßen aufgeregt und nervös waren und zusahen, wie zwischen ihnen zwangsläufig etwas ganz Neues wuchs. Selten waren sie allein zusammen, und wenn ja, dann nur kurz oder zufällig – eine kurze Begegnung auf der Treppe, ein Fünfminutengespräch, wenn Mrs. Bunten auf der Toilette war. Aidan war ständig von Menschen umgeben, und alle wollten etwas von ihm: seine Aufmerksamkeit, seinen Segen, seine Meinung, die Berührung seiner Hand auf ihren Schultern. »Bitte, Pastor, einige Minuten Ihrer Zeit.« Hannahs Groll ihnen gegenüber wuchs, während sie das Echo dieses Hungers nach Zuwendung in sich selbst spürte.
Am meisten jedoch empfand sie Groll und Neid Alyssa Dale gegenüber. Aidans Frau wurde eine regelmäßige Besucherin im Büro des 1. KM; wann immer Hilfe erforderlich war, platzte sie herein. Mrs. Bunten sagte eines Tages, wie nett es doch von Mrs. Dale sei, dass sie derart Anteil an ihrer Arbeit nehmen würde. Zu Hannah war Alyssa distanziert höflich und, wenn Aidan in der Nähe war, wachsam. Waren nur die Frauen im Büro, war sie entspannter, auch wenn sie ihre Reserviertheit, eine Art von Frömmigkeit, nie ganz ablegte. Trotzdem arbeitete sie genauso hart wie die anderen, war großzügig mit Lob und brachte alle mit ihrem trockenen Sinn für Humor zum Lachen. Mrs. Bunten und die anderen Frauen bewunderten sie, und selbst Hannah begann ihr Bewunderung entgegenzubringen. Unter anderen Bedingungen, da war sich Hannah sicher, wären sie und Alyssa Dale bestimmt Freundinnen geworden.
In der Zwischenzeit wuchs die Spannung zwischen Aidan und Hannah ins Unerträgliche. Manchmal war sie so greifbar, dass Hannah schon erwartete, sie würde in der Luft zwischen ihnen eine verschlungene, glitzernde Form annehmen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen betete sie zu Gott und bat ihn um Vergebung. Und jede Nacht lag sie schlaflos da und stellte sich vor, wie Aidan neben ihr liegen würde. Sie wusste, sie sollte das 1. KM verlassen, um der Versuchung, ständig in seiner Nähe zu sein, aus dem Wege zu gehen. Sie verfasste sogar schon ein Kündigungsschreiben an Mrs. Bunten, doch sie brachte es nicht übers Herz, es abzusenden. Ebenso wenig brachte sie es übers Herz, Gott darum zu bitten, ihr zu helfen, damit die Liebe zu Aidan endlich aufhörte.
Im Juni wurde Hannah fünfundzwanzig. Als sie am Morgen ihres Geburtstages ins Büro kam, entdeckte sie auf ihrem Schreibtisch eine große Orchidee in einem Topf. Die exotische Pflanze wirkte in dem ansonsten eher spartanischen Büro genauso fehl am Platze wie ein Zebrafell oder eine Ming-Vase. Die Blütenblätter waren gelb mit blutroten Klecksen, und die Pflanze war als perfektes U geformt.
»Woher kommt die Blume?«, fragte sie Mrs. Bunten. Alyssa war Gott sei Dank nicht anwesend, sie begleitete Aidan auf einer ausgedehnten Mission nach Afrika.
»Sie ist gerade geliefert worden. An dich adressiert.«
Aufgeregt wandte Hannah der anderen Frau den Rücken zu und suchte nach einer Karte, obwohl sie sicher war, keine zu finden. Als sie mit dem Zeigefinger eines der Blütenblätter berührte, fühlte es sich weich und absolut lebendig an, wie Haut.
»Du hast uns gar nicht gesagt, dass du einen Verehrer hast«, sagte Mrs. Bunten in einem neckischen, tadelnden Ton.
»Die ist von meinem Vater«, log Hannah. »Er schenkt mir jedes Jahr zum Geburtstag eine Orchidee.«
»Oh«, antwortete Mrs. Bunten enttäuscht. »Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe! So hübsch, wie du bist, wirst du sicher bald jemanden kennenlernen.«
Hannah konnte sich den ganzen Tag nicht konzentrieren. Was hatte es zu bedeuten, dass Aidan ihr dieses extravagante, sinnliche Geschenk
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