Die Geächteten
zueinander gehabt. Nun gab es niemanden mehr, dem Hannah offenbaren konnte, was in ihr vorging.
Abgesehen von Becca gab es niemanden, dem sich Hannah anzuvertrauen wagte. Obwohl sie Aidan Dale über zwei Monate nicht gesehen hatte, war er in ihren Gedanken doch allgegenwärtig. Als sie Perlen auf den Schleier und Rosen auf das Mieder nähte, erinnerte sie sich an seine Herzlichkeit ihrer Familie gegenüber, an die glühenden Gebete für den Vater, an die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter. Wieder und wieder erlebte sie den Moment, in dem sie in seine Augen blickte und dort ihre eigenen Gefühle sah oder zumindest davon überzeugt war, sie gesehen zu haben. Zwei Dinge hielten sie davon ab, es als sehnsüchtiges Hirngespinst abzutun: Nach diesem Tag war er nicht wieder im Krankenhaus gewesen. Aber Alyssa Dale war gekommen.
Sie hatte ihnen am nächsten Morgen einen Besuch abgestattet. Hannah und Becca waren mit ihrem Vater allein, ihre Mutter war zu Hause geblieben. Die Aufregung am Tag zuvor und der große Rummel um ihn hatten ihre Kräfte beansprucht. Hannah war im Stuhl neben dem Bett ihres Vaters eingeschlafen. Im Halbschlaf hörte sie ein murmelndes Gespräch zwischen Becca und einer anderen Frau, doch das war es nicht, was sie aus dem Schlaf holte. Es war vielmehr das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Sie machte die Augen auf und sah Alyssa Dale am Fußende des Bettes stehen, genau dort, wo Aidan gestanden hatte. Alyssa starrte sie an. Verdutzt schaute sich Hannah im Zimmer um, doch Becca war nicht da.
»Ihre Schwester hatte einen Anruf, und sie ist nach draußen gegangen, um das Gespräch anzunehmen«, sagte Alyssa sanft. »Sie wollte Ihren Vater nicht wecken.«
»Oh«, sagte Hannah. Sie fühlte sich träge und betäubt. Sie wusste, dass sie aufstehen und die Besucherin begrüßen musste, doch Alyssas offener, abwägender Blick ließ sie wie festgenagelt auf dem Stuhl sitzen bleiben. In der Öffentlichkeit war Alyssa Dale der Inbegriff der Pastorengattin: gesittet und gütig, hübsch, aber nicht schön genug, um Missgunst aufkommen zu lassen, würdevoll, ohne distanziert zu sein. Zum ersten Mal nahm Hannah die Intelligenz wahr, die in den sanftmütigen haselnussbraunen Augen der anderen Frau wohnte. Hatte sie sie übersehen, weil sie nicht erwartet hatte, sie hier zu sehen, oder weil Alyssa sie normalerweise verbarg?
»Herzlichen Glückwunsch zu den guten Neuigkeiten über Ihren Vater. Sie müssen sehr erleichtert sein.«
»Das sind wir, danke.« Hannah zwang sich auf die Beine und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Hannah.«
Alyssa nickte, reichte ihr aber nicht die Hand. »Mein Mann hat Ihren Namen erwähnt. In seinen Gebeten.«
Hannah ließ den Arm sinken. »Es ist nett von Ihnen vorbeizukommen.«
»Aidan hat mir erzählt, dass der Herr gestern ein Wunder vollbracht hat. Ich wollte mich selbst davon überzeugen.«
Alyssas Augen ruhten immer noch auf Hannah. Vor ihrem prüfenden Blick wäre Hannah am liebsten geflohen. »Ja«, sagte sie, »wir alle sind unglaublich dankbar für seine Anteilnahme.«
»Die des Herrn oder die meines Mannes? Manchmal bringen die Menschen das durcheinander.« Alyssas Ton war leicht säuerlich. »Wahrscheinlich liegt das nur daran, dass sie ihn nicht erleben, wenn er seinen Morgenkaffee noch nicht getrunken hat.«
Hannah sagte nichts; es machte sie verlegen, dass plötzlich in ihrem Kopf das Bild von Aidan im Pyjama auftauchte, Aidan mit zerzaustem Haar und mit schweren Lidern. Alyssa beobachtete sie mit einem wissenden Ausdruck, der zugleich eine Warnung enthielt. Und Hannahs Wangen brannten, als ihr in den Sinn kam, wie viele Frauen sich im Laufe der Jahre wohl eingebildet haben mochten, in Aidan Dale verliebt zu sein. Sie musste eine von Dutzenden sein, vielleicht sogar eine von Hunderten, die über ihn Fantasien entwickelten. Die sich wünschten, er wäre nicht mit dieser scharfsinnigen, beherrschten Frau verheiratet.
»Hannah.« Becca sprach in einem lauten Flüsterton. Sie stand auf der Schwelle, mit ihrem Port in der Hand. »Mama möchte mit dir sprechen.«
Hannah unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. »Bitte entschuldigen Sie mich, Mrs. Dale.«
»Nein, ich sollte jetzt gehen«, sagte Alyssa. »Wir fahren heute Abend nach Mexiko und danach nach Südamerika und Kalifornien, und ich habe noch nicht fertig gepackt.«
»Eine lange Reise«, sagte Hannah.
»Drei Wochen. Lang genug.« Sie musste nicht den Satz hinzufügen: Für ihn, um
Weitere Kostenlose Bücher