Die Geächteten
geradeaus.
Sie näherten sich einem großen, fensterlosen Gebäude, das sechs Stockwerke hoch war: das Gefängnis. Als sie unter seinem Schatten vorbeigingen, spürte Hannah eine Kälte, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Nur die äußerst gewalttätigen Verbrecher waren hinter Gittern – die Mörder ersten Grades, Serienvergewaltiger, Abtreiber und andere Straftäter, bei denen der Staat der Überzeugung war, sie ließen sich nicht resozialisieren. Die meisten hatten eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verbüßen. Wer einmal hier hereinkam, kam nicht wieder heraus.
Als sie sich dem Tor näherten, fing es an, sich zu bewegen. Mit einem mechanischen Ächzen glitt es in die Wand.
»Sie sind jetzt frei«, sagte der Aufseher zu Hannah. Sie verweilte auf der Schwelle. »Was ist los, Pajarita , hast du Angst, das Nest zu verlassen?«
Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört, straffte die Schultern und marschierte durch das Tor in die Welt hinaus.
Hannah stand in einer kurzen Auffahrt, die zu einem Parkplatz führte. Sie ging in die Ecke der Auffahrt und schaute sich den Parkplatz an, während sie mit der Hand ihre Augen vor der Morgensonne schützte. Dort bewegte sich nichts; es gab kein Zeichen von der blauen Limousine ihrer Eltern. Sie richtete ihre Augen auf die Einfahrt, als wollte sie herbeiführen, dass das Auto erschien. Sie sagte sich, dass sie spät sei.
»Hey, Mädel«, rief eine männliche Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und bemerkte eine kleine Bude, die sie von der anderen Seite des Tores nicht hatte sehen können. Ein Wachmann lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der offenen Tür. »Sieht so aus, als würde dein Freund nicht kommen«, sagte er.
»Mein Vater«, sagte Hannah. »Und er wird kommen.«
»Hätte ich für jedes Mal, wenn ich das gehört habe, einen Dollar bekommen, wäre ich so reich wie ein Araber.« Der Wachmann war groß und dürr, hatte ein selbstgefälliges, pickeliges Gesicht und einen vorstehenden Adamsapfel, der krampfhaft auf und ab hüpfte, wenn er sprach. Er sah aus, als wäre er erst siebzehn, doch Hannah wusste, dass er mindestens einundzwanzig sein musste, sonst hätte er nicht in einem Staatsgefängnis arbeiten dürfen.
Sie hörte ein Auto. Sie drehte sich um und sah, wie ein Wagen auf den Parkplatz fuhr, doch er war silberfarben, nicht blau. Ihre Schultern sackten in sich zusammen. Der Wagen hielt an, setzte zurück und fuhr wieder fort.
»Sieht so aus, als wäre jemand falsch abgebogen«, sagte der Wachmann. Hannah blickte zu ihm und fragte sich, ob er absichtlich so ironisch war. Doch dann entschied sie, dass er dafür zu dumm sei. »Was wirst du machen, wenn dein Vater sich nicht sehen lässt? Wohin willst du gehen?«
»Er wird kommen«, sagte Hannah etwas zu entschieden.
»Du kannst eine Weile zu mir kommen, wenn du nicht weißt, wohin. Bei mir ist es echt schön. Reichlich Platz für zwei.« Sein Mund verzog sich zu einem halben Lächeln. Hannah spürte, wie ihre Haut vor Abneigung kribbelte, als seine Augen wieder und wieder an ihrem Körper entlangglitten. Wie vielen anderen Frauen wird er diesen Vorschlag schon gemacht haben, und wie viele waren verzweifelt genug gewesen, um ihn anzunehmen? Bewusst drehte sie ihm den Rücken zu.
»Ich wollte nur freundlich sein«, sagte der Wachmann. »Ich denke, du wirst merken, dass die Welt für Verchromte kein netter Ort ist.«
Aus dem Augenwinkel heraus sah Hannah, dass er wieder in seine Bude ging. Sie setzte sich auf den Bordstein. In Sommerbluse und Rock war ihr kalt, aber das kümmerte sie nicht. Die frische Luft war göttlich. Dankbar atmete sie ein und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Ihrem Stand zufolge musste es kurz vor zwölf sein. Warum war ihr Vater so spät?
Sie wartete etwa zwanzig Minuten, als ein gelber Lieferwagen Richtung Tor auf den Parkplatz fuhr und direkt vor ihr zum Halten kam. Auf der Autotür stand: CRAWFORD TAXI SERVICE, WIR SIND FÜR SIE DA. Das Beifahrerfenster ging auf, und der Fahrer, ein Mann mittleren Alters mit einem fettigen grauen Pferdeschwanz, lehnte sich heraus und sagte: »Sie brauchen ein Taxi?«
Sie stand auf. »Vielleicht.« In Crawford konnte sie etwas zu essen bekommen und ein Netzwerk finden, um ihren Vater anzurufen. »Wie weit ist es bis in die Stadt?«
»Ungefähr fünfzehn Minuten.«
»Wie ist der Preis?«
»Nun, lassen Sie mich mal sehen«, sagte der Fahrer. »Ich berechne rund dreihundert, Trinkgeld inklusive.«
»Das ist
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