Die Geächteten
die Wohlfahrt. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie in der Suppenküche gearbeitet und Tabletts mit Essen an zerlumpte Menschen weitergereicht hatte, an Menschen, die vor Armut und Verzweiflung stanken und die es vermieden, sie anzusehen. Wie hatte sie diese armen Menschen bemitleidet. Wie großzügig, wie tugendhaft hatte sie sich gefühlt, weil sie ihnen helfen konnte . Ihnen – Menschen, die ganz anders als sie und ihre Familie waren, Menschen, die so tief gefallen waren, wie sie niemals fallen könnte.
»Er ist auch der Grund dafür, dass sie dich aufnehmen«, fuhr ihr Vater fort. »Das Zentrum hat eine lange Warteliste.« Als Hannah keine Antwort gab, fuhr er fort: »Wir sind glücklich, dass Pastor Dale sich so um deinen Fall gekümmert hat.«
Sie stellte sich vor, wie es für Aidan gewesen sein musste, solche Anrufe zu tätigen. Hatte er sie bemitleidet? Sich selbst als Wohltäter betrachtet? Sie als eine von ihnen betrachtet?
»Ja«, sagte sie hölzern. »Wir sind sehr glücklich.«
Die Autobahn war wie gewöhnlich verstopft, und Hannah und ihr Vater kamen die rund fünfzehn Kilometer bis nach Richardson nur im Schneckentempo voran. Ihr Vater stellte das Sat-Radio an und suchte nach einem Nachrichtensender. Hannah hörte mit halbem Ohr zu. Der Senat hatte den Freedom from Information Act mit achtundachtzig zu zwölf Stimmen verabschiedet – ein Gesetz, wonach US-Bürger ab sofort kein Recht mehr hatten, Zugang zu Dokumenten der Exekutive zu verlangen. Militante des rechten Flügels hatten Präsident Napoleón Cifuentes aus Brasilien getötet und damit die letzte demokratische Regierung Südamerikas gestürzt. Ständige Überschwemmungen in Indonesien hatten im Oktober erneut mehr als zweihunderttausend Menschen ihre Heimat genommen. Syrien, Libanon und Jordanien hatten sich aus den Vereinten Nationen zurückgezogen und als Grund antiislamische Tendenzen angeführt. Der Quarterback der Miami Dolphins war wegen des Einsatzes von Nano-Medikamenten suspendiert worden. Hannah machte das Radio aus. Was hatte das alles mit ihr zu tun?
Eine dreiköpfige Familie rückte zu ihnen auf und fuhr neben ihnen her. Als der Junge auf dem Rücksitz Hannah sah, wurden seine Augen groß. Sie legte die Hand über die Seite ihres Gesichts, aber sie spürte, wie er sie mit der direkten Unbefangenheit eines Kindes anstarrte. Schließlich drehte sie sich ihm zu, machte ein gruseliges Gesicht und fletschte die Zähne. Seine Augen und sein Mund wurden riesengroß, und er sagte etwas zu seinen Eltern. Sie drehten ruckartig die Köpfe und funkelten sie böse an, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Es war doch klar, dass der Junge sie anstarrte: Sie war eine Monstrosität. Wie viele Male hatte sie selbst mit krankhafter Faszination auf einen Verchromten gestarrt, obwohl sie wusste, dass es unhöflich war? Doch sie hatte einfach nicht anders gekonnt. Auch wenn der Anblick der Verchromten in der Stadt fast normal war, das galt insbesondere für die Gelben, zogen sie die Blicke doch auf sich. Hannah fragte sich, wie sie das aushielten. Wie sie das aushalten würde.
Ihr Vater nahm die Ausfahrt Belt Line, und sie fuhren an dem Einkaufszentrum vorbei, wo sie und Becca immer hingegangen waren, um mit der Jugendgruppe der Kirche etwas zu erleben. Sie kamen am Eisemann Center vorbei, wo sie sich Der Nussknacker und Schwanensee angesehen hatten, und am Stadion, wo sie die Footballspiele der Highschools verfolgt hatten. Diese Dinge aus ihrem alten Leben schienen so idyllisch und unrealistisch wie Modelle in einem Diorama.
Sie mussten an einer Ampel anhalten, als plötzlich etwas dumpf gegen Hannahs Scheibe schlug. Sie zuckte zusammen und schrie laut auf. Ein Gesicht war gegen das Glas geprallt. Es wurde zurückgenommen, und sie sah, dass es zu einem Jugendlichen gehörte. Ein Mädchen in seinem Alter mit Haaren wie ein Regenbogen und einem Ring durch die Lippe stand hinter ihm. Die beiden lachten höhnisch über Hannahs Schrecken.
»Hey, lasst sie in Ruhe!« Ihr Vater stieß die Tür des Autos auf und stieg aus, und die Jugendlichen liefen die Straße hinunter. »Punks! Ihr solltet euch schämen!«, rief er ihnen hinterher. Der Junge zeigte ihm den Stinkefinger. Hinter ihrem Auto kam es zu einem Hupkonzert, und Hannah zuckte erneut zusammen – die Ampel war mittlerweile grün.
Ihr Vater stieg wieder ins Auto und fuhr los. Mit zusammengepressten Kiefern sah er sie an. »Bist du in Ordnung?«
»Ja, Daddy«,
Weitere Kostenlose Bücher