Die Geächteten
machte? Denn es kam ganz sicher von ihm. Es war keine Karte dabei, das war der Beweis. Hatte er seinen Gefühlen gegenüber doch kapituliert? Was würde jetzt geschehen?
Sie hatte drei qualvolle Wochen, um die Antworten zu überdenken. Eine so lange Zeit hatte sie noch nie ohne ihn erlebt, seit sie im Büro arbeitete. Sie war gereizt und unaufmerksam. Sie tröstete – und folterte – sich selbst, indem sie sich Videos von seinen Predigten ansah, oft sogar zusammen mit ihren Eltern. Anfangs war sie unruhig, ängstlich, ihr Gesicht könnte ihre Gefühle preisgeben. Doch schließlich merkte sie, dass ihr Ausdruck den der anderen Zuhörer widerspiegelte. Die ganze Welt liebte Aidan Dale.
Er kehrte an einem Freitag, an einem ihrer freien Tage, zurück. Und dann kam das Wochenende. Sie ging zusammen mit ihren Eltern wie jeden Sonntag in die Kirche. Aidans Predigt war an diesem Tag ungewöhnlich leidenschaftlich und rief in der Gemeinde eine fast schon ekstatische Begeisterung hervor. Mit einem Text aus dem 1. Johannes beendete er still seine Predigt: »Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott.«
Obwohl sie zu weit hinten saß, als dass er sie hätte sehen können, war Hannah sich sicher, dass er zu ihr sprach.
Es war Montag. Sie trug ihr dunkelgrünes Kleid, bei dem ihre Mutter ständig eine Augenbraue hochzog, weil seine einfachen Linien ihre Figur zu sehr betonten. Sie verbrachte den Tag in einem Zustand unruhiger Erwartung und blieb sogar eine halbe Stunde länger, doch er kam nicht. Niedergeschlagen und verwirrt verließ sie das Büro. Er hatte ihr gegenüber nie ein unangemessenes Wort gesagt. Er hatte nie versucht, allein mit ihr zu sein. Er hatte nie versucht, sie zu berühren. Waren das alles nur Hirngespinste in ihrem Kopf?
Am nächsten Morgen erhielt sie einen Anruf aus dem Kirchenbüro. Eine der freiwilligen Begleitpersonen für das Pfadfindertreffen »Wahre Liebe wartet« am Wochenende in San Antonio musste wegen eines familiären Notfalles absagen. Ob Hannah einspringen könne?
»Natürlich«, erwiderte sie. Sie wusste, dass Aidan dabei war. Mrs. Bunten hatte es gestern beiläufig erwähnt. Hatte er sie vorgeschlagen?
Sie verbrachte eine unangenehme Woche mit Warten, in der ihre unsteten Gedanken sie quälten: er hatte, er hatte nicht, er hatte, er hatte nicht. Aidan selbst war wieder weg, er leitete gerade die Eröffnung eines neuen Heimes in Beaumont. Hannah konnte nichts anderes tun, als abzuwarten, bis endlich der Freitag kam und sie sich der Karawane nach San Antonio anschließen durfte. Abzuwarten, bis die Teenager im Hotel eingecheckt, Willkommenspäckchen ausgehändigt, Verwechslungen und Streitigkeiten – ich war eigentlich mit Emily in einem Zimmer! – geklärt waren. Bis endlich das abendliche Kameradschaftsessen vorüber war. Aidan sollte das Pfadfindertreffen eigentlich leiten, doch im Osten von Texas hatte es Gewitterstürme gegeben und sein Flug war gecancelt worden. Das enttäuschte Aufstöhnen, das diese Neuigkeit bei einhundertfünfzwanzig Teenagern auslöste, übertönte Hannahs eigenen kleinen Frustrationsschrei.
Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer und wartete darauf, dass das Video klingelte. Sie zählte die wenigen Fakten, die sie hatte, zusammen. Fakt: Das Kirchenbüro hatte Hunderte von Freiwilligen, aus denen es wählen konnte, doch man hatte sie gefragt, Hannah, genauso wie man sie um ein Bewerbungsgespräch gebeten hatte. Fakt: Aidan kam allein. Alyssa war für eine Woche weg, um ihre Eltern in Houston zu besuchen. Fakt: Die anderen Freiwilligen schliefen zu zweit in einem Zimmer, doch Hannah hatte ein Zimmer für sich allein. War es nur ein Zufall, dass sie die Außenseiterin war?
Halb erwartungsvoll, halb verzweifelt wartete sie auf einen Anruf, als sie gegen elf Uhr ein Klopfen an der Tür hörte. Sie schreckte auf. Das Klopfen kam nicht von der Tür zum Korridor, sondern von der Tür des Nachbarzimmers: drei leise Schläge. Hannahs Herz schlug laut, doch sie versuchte, ruhig zu bleiben. Langsam schritt sie zur Tür, in dem würdevollen, gemäßigten Schritt, in dem eine Braut zum Altar ging.
Sie holte tief Luft, löste den Riegel und öffnete die Tür. Keiner von beiden bewegte sich oder sprach. Sie sahen einander nur an, glücklich darüber, dass sie hier waren, zusammen, allein.
Auf Aidans zartem Gesicht zeichneten sich Gram und Verlangen ab. Hannah sah es sich ganz genau an
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