Die Geächteten
unverschämt!«
Er zuckte die Achseln. »Nicht viele Taxis nehmen eine Verchromte mit.«
»Was habe ich dir gesagt, Mädel?«, fuhr der Wachmann hinter ihr dazwischen. »Auf eine Rote wartet da draußen eine harte, miese Welt.« Jetzt stand er grinsend vor der Bude, und Hannah wurde klar, dass er das Taxi gerufen haben musste. Er und sein Kumpel, der Fahrer, hatten dieses Spiel zweifellos schon viele Male gespielt und sich danach den Gewinn geteilt.
»Also?«, fragte der Fahrer. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Wie viel Geld hatte sie noch? Viel konnte es nicht sein. Ihre gesamten Ersparnisse waren für die Abtreibung draufgegangen. Als sie verhaftet wurde, waren auf ihrem Konto etwa tausend Dollar gewesen, aber für ihre Rechnungen würden Abbuchungen abgegangen sein. Die dreihundert Dollar, die sie vom Staat Texas bekommen hatte, waren wohl das Einzige, was ihr geblieben war. »Ich gehe zu Fuß«, sagte sie.
»Wie Sie wollen.« Der Taxifahrer drehte das Fenster hoch und fuhr fort.
»Hast du deine Meinung jetzt geändert?«, fragte der Wachmann. Er schlenderte zu ihr herüber. Sie verkrampfte sich, doch er gab ihr nur einen Fetzen Papier. Darauf standen ein Name, Billy Sikes, und eine Telefonnummer. »Das ist meine Nummer«, sagte er. »Wenn ich du wäre, würde ich das annehmen. Du wirst bald feststellen, dass du in diesen Tagen einen Freund brauchst.«
Hannah zerknüllte den Zettel in ihrer Faust und ließ ihn auf den Boden fallen. »Ich habe genug Freunde.« Sie wandte ihm den Rücken zu und ging in Richtung Straße.
Sie war auf halbem Wege zur Einfahrt, als sich der ihr vertraute blaue Wagen näherte. Sie lief los. Der Wagen hielt einige Schritte vor ihr. Sie sah ihren Vater am Lenkrad, er war allein. Sie hätte es wissen müssen, dass ihre Mutter oder Becca nicht mitkommen würden, doch trotzdem tat ihre Abwesenheit ihr weh. Einen kurzen Moment bewegte sich weder ihr Vater noch sie selbst. Durch das Glas der Windschutzscheibe starrten sie – Welten voneinander entfernt – einander an. Vor Angst war ihr Mund ganz trocken. Was, wenn er ihren Anblick nicht ertragen konnte? Was, wenn er sich dadurch so zurückgestoßen fühlte, dass er wieder wegfuhr und sie allein ließ? Sie hatte bereits so viel verloren, sie glaubte nicht, ohne die Liebe ihres Vaters weiterleben zu können. Zum ersten Mal, seit sie die Chrom-Station verlassen hatte, betete sie. Nicht zu Gott, sondern zu Seinem Sohn, denn er wusste, was es hieß, gefangen zu sein, allein, innerlich sterbend. Er wusste, was es hieß, im Stich gelassen zu werden.
Die Fahrertür wurde aufgerissen, und John Payne stieg aus. Zwischen ihm und ihr befand sich die Fahrertür. Sie ging langsam auf ihn zu, vorsichtig, wie ein Vogel, der Angst hat, in die Lüfte zu steigen. Als sie nur noch einige Schritte von ihm weg war, blieb sie unsicher stehen. Ihr Vater starrte sie an, ohne ein Wort zu sagen. Tränen liefen über sein Gesicht.
»Daddy?«
Seine Brust hob sich, und er würgte einen Schluchzer hervor. Der Klang zerriss sie. Nur ein einziges Mal, auf der Beerdigung ihrer Großmutter, hatte Hannah ihren Vater weinen gesehen. In ihre eigenen Augen quollen die Tränen, als ihr Vater hinter der Autotür hervorkam und ihr seine Arme entgegenstreckte. Sie ließ sich hineinfallen und spürte, wie sie sie umschlossen. Niemals zuvor in ihrem Leben war sie für irgendetwas dankbarer gewesen als für diese Zärtlichkeit, diese einfache menschliche Wärme. Sie dachte an die letzten Male zurück, wo sie berührt worden war: vom früheren Aufseher, vom Arzt, der sie festgeschnallt hatte, um ihr das Virus zu injizieren, vom Verwalter im Gerichtssaal, von der schrecklichen Polizeiärztin. Liebevoll berührt zu werden kam einem Wunder gleich.
»Meine schöne Hannah«, sagte ihr Vater und streichelte ihr Haar. »Oh, mein süßes, schönes Mädchen.«
Er hatte eine Kühlbox mit Essen dabei: ein Truthahn-Sandwich, Kartoffelchips, einen Apfel, eine Thermoskanne mit Kaffee. Einfache Dinge, doch nach dreißig Tagen mit Proteinriegeln schmeckten sie himmlisch. Während sie aß, schwieg er, und seine Augen waren auf die Straße gerichtet. Sie fuhren in Richtung Dallas. Nach Hause . Ein Hoffnungsschimmer machte sich breit. Vielleicht hatte ihre Mutter ihr vergeben, zumindest so weit, dass sie sie wieder zu Hause dulden würde.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte ihr Vater: »Ich kann dich nicht mit nach Hause nehmen. Das weißt du, oder?«
Die Hoffnung schwand und
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