Die Geächteten
und entdeckte zum ersten Mal, dass seine Züge nicht nur attraktiv, sondern außergewöhnlich waren. Was sein Gesicht so faszinierend machte, waren die Widersprüche darin: Jungenhaftigkeit und Sinnlichkeit, Selbstsicherheit und Demut, Glauben und Angst, als würde es irgendwann von einem schrecklichen Schlag getroffen werden, den nur er vorhersehen konnte.
»Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst«, sagte er. »Ich bin ein Sünder. Schwach, ohne Glauben.«
»Du bist der Mann, den ich mir wünsche«, sagte Hannah. Sie fühlte sich sonderbar ruhig, jetzt, wo dieser Augenblick gekommen war, glücklich außerhalb ihres Kopfes. Sie hatte keinerlei Zweifel, nur das Gefühl absoluter Unvermeidbarkeit, etwas, das nur von Gott kommen konnte.
»Ich bin von der schlechtesten Sorte eines Pharisäers.«
»Nein, nicht hierin«, erwiderte Hannah. »Das ist ehrlich. Das ist richtig . Fühlst du es nicht?«
»Ja, ich fühle es«, sagte er, »wie ich nie zuvor in meinem Leben etwas gefühlt habe. Aber deine Ehre, Hannah. Deine Seele.«
Sie nahm seine Hand, führte sie zu ihrer Brust und legte sie auf ihr Herz, dann legte sie ihre Hand auf sein Herz, das im Gegensatz zum beständigen Takt ihres Herzens wie ein wildes kontrapunktisches Schlagzeug hämmerte. Sie wartete, und endlich zog er sie an sich und küsste sie.
Dieses erste Mal hatte er seine Augen geschlossen, selbst als sie vor Schmerzen aufschrie. Beim Klang ihres Schreies verzog er das Gesicht, als wäre er derjenige, der verletzt worden war. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie noch Jungfrau war, nicht, weil sie die Tatsache verheimlichen wollte, sondern weil es ihr irgendwie selbstverständlich schien. Sie hatte nur auf ihn gewartet.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht.« Seine Hüften bewegten sich schneller. Sein Körper bebte. Und dann schrie er selbst, aber nicht vor Schmerzen.
Jetzt schloss Hannah die Augen und stellte sich vor, wie es sein würde, ihn wiederzusehen – ihren Kopf in seiner Schulterbeuge vergraben, während er ihr Haar streichelte und wahllos von irgendwelchen Dingen sprach: von einem Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte, einer Predigt, mit der er rang, einer Idee, die er zuvor noch mit niemandem geteilt hatte. Doch die Fantasie kam ins Stocken, wie allzu oft auch ihre Gespräche, wenn einer von beiden versehentlich das falsche Wort gesagt und die zerbrechliche Membran durchstoßen hatte, die sie vor der Welt da draußen schützte. »Daheim«, beschwor Alyssa im Bett zwischen ihnen. »Kirche«, erhob der Geist der Entdeckung und des Skandals. »Morgen« oder »nächste Woche« führten zu Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. Eine Zukunft, die sie beide nicht miteinander haben würden.
Denn es stand außer Frage, dass Aidan seine Frau jemals verlassen würde. Er hatte es Hannah in ihrer ersten Nacht unverblümt gesagt, als er sich anzog. »Ich kann dir niemals mehr bieten als das«, sagte er und winkte mit der Hand, um das zerwühlte Bett, den exemplarischen Raum zu umfassen. »Ich liebe dich, aber ich kann Alyssa niemals verlassen. Eine derartige Schande kann ich ihr nicht antun. Verstehst du das? Du und ich – wir werden uns niemals öffentlich lieben können.«
»Ich verstehe.«
»Du verdienst es, mit irgendjemandem«, sagte er. »Einen Ehemann, eine Familie.«
Hannah lag in dem feuchten Bett und roch den Duft seiner Haut. Ihr Körper schmerzte noch vom Liebemachen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Schon der Gedanke daran war widerlich.
»Ich möchte keinen anderen«, sagte sie zu ihm.
II. Reue
DAS SONNENLICHT WURDE VOM BETON REFLEKTIERT, GLITZERTE AUF Stacheldraht und Stahl und badete ihr Gesicht in Wärme. Ein kühler Wind wehte über ihre Haut und wirbelte ihr Haar durcheinander, und ein strahlend blauer Himmel stach in ihre Augen. Die Geräusche von Autos drangen an ihr Ohr, der Fetzen eines Songs aus dem Radio, das Zwitschern von Vögeln, das Zirpen von Heuschrecken, das Knirschen von zwei Paar Füßen auf Kieselsteinen. Der sensorische Input war schwindelerregend, überwältigend. Hannah stolperte, und der Aufseher, der neben ihr ging, hielt sie am Oberarm fest, damit sie nicht hinfiel. Während er dies tat, berührten seine Finger kurz die sanfte Wölbung ihrer Brust. Absichtlich? Sie warf ihm einen Seitenblick zu, doch sein breites braunes Gesicht war teilnahmslos, und seine Augen starrten
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