Die Geächteten
mit leerem Blick und brennenden Augen auf die Stufe. »Sag es mir«, sagte ihr Vater.
»Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich dachte, wie … wie gut sich das anfühlt.« Sie begann zu weinen, und er saß schweigend neben ihr, während die Schluchzer durch ihren Körper fegten und sie sich ein unbekümmertes zwölfjähriges Mädchen, wie sie es war, vorstellte, ein Mädchen, das an einem Tag wie diesem in Los Angeles auf seinem Rad den Hügel hinabfuhr, das Gesicht dem Wind entgegengestreckt … der schneidenden Explosionsluft der Bombe, die ihr und ihrer Familie und siebenhunderttausend anderen Menschen den Tod bringen sollte.
Als Hannah sich ausgeweint hatte, spürte sie, wie ihr Vater den Arm um sie legte. »Es tut mir leid, Daddy«, sagte sie und lehnte sich an ihn.
»Ich weiß.«
In ihrer Nähe heulte eine Sirene auf. Hannah erschrak. Sie schaute sich um und stellte fest, dass sie sich in der Nähe der Harrington-Bibliothek befand. Sie ging darauf zu und spürte, wie ihre Lebensgeister beim Anblick des vertrauten cremefarbenen Steingebäudes wieder geweckt wurden. Vor dem Gebäude flatterten die amerikanische und texanische Flagge stolz im Wind. Schon als Kind, als es in Plano noch mehrere öffentliche Büchereien gab, war sie am liebsten in die Harrington-Bibliothek gegangen, denn dort gab es die meisten Bücher und die nettesten Bibliothekare, die angesichts ihrer Auswahl nie tadelnd die Brauen hochzogen. Bis sie sechzehn wurde, war es ihr nicht erlaubt, die Bibliothek ohne einen Elternteil zu betreten – ein Verbot, das sie, so oft es möglich war, umging. Die Bücher, die sie sich auslieh, versteckte sie zu Hause unter der Matratze, und nachdem ihre Mutter ihr Versteck entdeckt hatte, im Innern ihres alten ausgestopften Löwen. Selbst als ihre Eltern ihren Port nicht mehr nach verbotenen Downloads durchsuchten, zog sie es vor, richtige Bücher zu lesen. Sie mochte ihren Geruch und das Gewicht in ihrer Hand, sie liebte es, die Seiten umzublättern, die bereits andere Leser vor ihr umgeschlagen hatten. Und manchmal stellte sie sich deren Gesichter vor.
Im Gegensatz zur Bücherei ihrer christlichen Schule, deren Auswahl sich auf Bücher und Videos beschränkte, die für junge Menschen geeignet zu sein schienen, gab es in der Harrington-Bibliothek eine Fülle von verlockendem Material. Die Liste mit Pseudonymen des Satans, die ihre Schule verbreitete, wurde Hannahs Leseliste. Sie entdeckte Hogwarts und Lyras Oxford, traf Holden Caulfield und Geliebte sowie Lady Chatterley, deren Liebesabenteuer Hannahs Körper auf ungewohnte Weise stimulierten. Und dann gab es da natürlich die Modemagazine: Vogue und Avant und Dutzende andere, die ihre Fantasie derart anregten, dass sie manches Mal zwischendurch aufstehen musste, um sich zu beruhigen. Niemand bemerkte sie dort, und niemand machte ihr Vorwürfe. Es interessierte niemanden in der Bibliothek, was sie las und wie sie darüber dachte. Jeder dort hatte seine eigenen Leidenschaften.
Mehr als alles andere war die Harrington-Bibliothek für Hannah ein Ort gewesen, an dem sie sich sicher und willkommen gefühlt hatte, deshalb öffnete sie beklommen die Tür, um das Haus zu betreten. Angeblich durften sie ihr den Zutritt nicht verweigern. Diskriminierungen gegen Verchromte waren in allen kommunalen Gebäuden untersagt. Eigentlich waren sie in allen öffentlichen Gebäuden verboten, doch befanden sich diese in Privatbesitz, hielt man sich nicht an das Gesetz, und so waren Schilder mit dem Hinweis FÜR VERCHROMTE VERBOTEN weit verbreitet.
Die Wache am Eingang war eine junge, derb aussehende Latina, die Hannah misstrauisch ansah, als sie sie bemerkte. Doch es handelte sich um ein professionelles Misstrauen, kühl und abwägend statt feindlich. Sie scannte Hannahs Ausweis ohne einen weiteren Kommentar und las die Information, die auf ihrem Bildschirm erschien. Als sie hochsah, war ihre Wachsamkeit einem Mitgefühl gewichen. Beschämt wurde Hannah klar, dass die Frau jetzt wusste, dass sie eine Abtreibung hatte vornehmen lassen, dass jede Person, die von nun an ihren Ausweis scannte, Bescheid wüsste. Dumm, dumm . Natürlich war es so. Warum hatte sie das nicht vorausgesehen?
»Dort gibt es einen Raum mit Privatkabinen im hinteren Bereich«, sagte die Angestellte.
Die Freundlichkeit war unerträglich. »Ich kenne mich in der Bibliothek aus«, antwortete Hannah kurz.
Im Hauptleseraum war es absolut ruhig, zumindest so lange, bis den anderen Hannahs Gegenwart
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