Die Geächteten
solange sie nur wusste, dass ihre Schwester lebte und es ihr gut ging. Sie konnte sogar damit leben, Becca nie wiederzusehen, wenn ihre Schwester dadurch in Sicherheit war. Doch wenn ihr irgendetwas zustoßen sollte …
Hannah stolperte über einen grob geflickten Asphaltbelag und wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ihre Beine schmerzten, und durch Beccas Slipper, die ihr zu eng waren, hatte sie jede Menge Blasen bekommen. Sie fror, war durstig und hundemüde. Sie brauchte einen Platz, um sich auszuruhen und ihre Gedanken zu ordnen. Noch dringender benötigte sie einen Ort, an dem sie heute Nacht schlafen konnte. Doch wohin sollte sie gehen? Nicht nach Hause. Auch nicht in den Schutzhort der Gemeinde. Selbst wenn ihr Stolz es zuließe, so hatten die Henleys bestimmt schon im Büro angerufen und über ihre Schande Bericht erstattet. Auch nicht zu Gabrielle, so verlockend die Idee auch war. Die Polizei wusste nichts über ihre Beteiligung, und Hannah konnte ihre Freundlichkeit nicht dadurch vergelten, dass sie sie nun gefährdete. Hannah hatte einige wenige Freundinnen aus der Schule, einige von der Arbeit und andere in der Gemeinde. Sie stellte sich vor, wie diese ihre Haustüren öffnen und sie auf der Treppe stehend sehen würden: Rachel steif und förmlich, den Mund missbilligend verzogen; Melody, sich unwohl fühlend und ängstlich, dass jemand sie zusammen sehen könnte; Deb verlegen und sooo bekümmert. Nein, die einzige Freundin, die sie willkommen heißen würde, wäre Kayla. Aber die musste sie erst einmal finden.
Glücklicherweise hatte Cole ihr den Schlüssel dafür geliefert: das Ortungssystem für die Verchromten. Sie würde den Nachnamen gar nicht benötigen. Bei einer Suche nach Kayla würde sie alle Fotos und Kriminalberichte über jede Verchromte in Texas bekommen, die Kayla hieß. Geosat würde den Rest erledigen. Wenn Kayla nicht zu Hause wäre, könnte sie ihre Freundin praktisch die Straße entlanggehen sehen.
Sie brauchte ihren Port, doch den hatte ihr Vater, und nach all dem, was sie heute hatte ertragen müssen, war der Gedanke daran, ihn anzurufen, seiner Betroffenheit, Frustration und Besorgnis über ihr Verlassen des Zentrums trotzen zu müssen, zu erdrückend. Von ihren Eltern war ihr Vater derjenige, den sie am wenigsten enttäuschen wollte. Hannahs Mutter hatte auf irgendeine Art und Weise stets erwartet, von ihr enttäuscht zu werden, ihr Vater dagegen hatte immer seinen fast kindlichen Glauben an seine Tochter bewahrt. Ihre Schwächen machten ihn fassungslos, und ihre Rebellion ließ ihn eher niedergeschlagen als ärgerlich zurück. Als sie zwölf war, hatte sie sich am Los-Angeles-Tag mit dem Rad auf und davon gemacht, obwohl es ihr verboten worden war. Sie war ruhelos gewesen und müde von den Feierlichkeiten des Tages. Den ganzen Morgen hatte sie mit ihren Eltern auf den Knien gehockt und für die Seelen der unschuldig Verstorbenen gebetet, und die ganze Zeit hatte sie darauf gewartet, dass die Uhr endlich den schicksalhaften Moment von elf Uhr siebenunddreißig anzeigen und die Glocken der Kirchen in der Nachbarschaft ihr melancholisches Geläute beginnen würden. Danach hatte sie sich die vertraute Bildmontage im Video ansehen müssen: die Pilzwolke, die sich über den Pazifik erhob, kilometerlange Trümmer, in denen die verkohlten Körper der Opfer verstreut lagen, die Massenbeerdigungen und Verbrennungen, die Bomben, die auf Teheran fielen. Und am Nachmittag dann war sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers geklettert und mit ihrem Rad eine gute halbe Stunde in der Gegend herumgefahren. Als sie atemlos und glücklich wieder nach Hause kam, hatte ihr Vater auf den Stufen der Eingangstreppe auf sie gewartet.
»Komm, setz dich eine Minute zu mir«, hatte er ruhig gesagt. Sein Gesichtsausdruck zeigte Schmerz, und Hannah wünschte sich, dass statt seiner ihre Mutter – wütend und anklagend – hier sitzen würde. »Hattest du Spaß beim Radfahren?«
Sie zog in Erwägung, nein zu sagen, doch sie hasste es, ihn anzulügen. »Ja.«
»Was war so schön daran?« Sie zuckte hilflos mit den Achseln und kratzte an abblätternder Farbe auf einer Stufe. »Was war so schön daran?«, fragte er nachdrücklich.
»Draußen zu sein, nehme ich an«, sagte sie. Durch den Knoten im Hals klang ihre Stimme gepresst.
»Und was noch?«
»Von McSherrys Hund gejagt zu werden. Den Maple-Hügel richtig schnell hinunterzusausen.«
»Woran hast du dabei gedacht?« Hannah schüttelte den Kopf, starrte
Weitere Kostenlose Bücher