Die Geächteten
sich selbst zu töten. Doch jetzt, wo sie die Worte ausgesprochen hatte, war das Ganze plötzlich schrecklich real.
»Wir können dir dabei helfen, eine der Ausnahmen zu sein«, sagte Anthony.
»Wie wollt ihr das anstellen?«
»Das hängt von dir ab«, sagte Susan. »Von deinem Willen und von deinem Mut.«
»Gehen wir davon aus, dass ich willig und mutig bin. Dann wie?«
»Warum setzt du dich nicht hin, dann können wir darüber sprechen.«
Hannahs Augen streiften die vier Gesichter: Simones war angespannt und aufmerksam und gab nichts preis; Pauls war ernst und leidenschaftlich; und Anthonys und Susans waren liebenswert und standen absolut im Widerspruch zu ihren schlauen und abwägenden Augen. Abgesehen von Paul traute sie keinem von ihnen, und auch er hatte ganz eindeutig seine eigenen Absichten. Dennoch machten sie ihr Hoffnung. Auch wenn es sich nur um einen Funken handelte, so war das mehr als fünf Minuten zuvor.
Sie zog den Stuhl hervor und setzte sich. »Ich nehme einen Kaffee«, sagte sie.
SIE BATEN SIE, EIN WENIG ÜBER SICH zu erzählen. Und Hannah fühlte sich genötigt, über ihre Erziehung, Familie und Arbeit zu berichten. Sie hatte das Gefühl, als seien sie weniger an den Details ihrer Antworten interessiert als vielmehr an ihren Glaubensvorstellungen und an ihrem Charakter. Als die Schilderung zur Schwangerschaft kam, fragte Anthony sie, wer denn der Vater sei. »Das ist persönlich«, erwiderte sie spröde. Und er und Susan nickten, als würde ihnen die Antwort gefallen. Hannah erwähnte die Abtreibung mit einem einzigen Satz, und sie hakten nicht weiter nach. Allerdings hatten sie großes Interesse an den Polizeibefragungen und ihren Wochen im Gefängnis. Meist stellte Susan die Fragen, sie war ganz offensichtlich die Federführende bei der Befragung. Als Hannah über ihre Zeit in der Chrom-Station sprach – über ihre Scham und Lethargie, ihre zunehmende geistige Verschlechterung –, stand Paul auf und lief ruhelos im Zimmer umher.
Alle vier horchten auf, als sie damit begann, von ihren Erfahrungen im Zentrum des Geraden Weges zu erzählen, und als sie die Erleuchtungssitzungen näher beschrieb, wuchs ihr Interesse, und ihre Fragen wurden pointierter. Ob die Henleys im Zentrum gelebt hätten? Wie oft sie ausgegangen seien? Ob Hannah den Nachnamen des Erleuchters wirklich nicht wisse oder die Namen der Ärzte, die als Besucher dort gewesen seien? Es dämmerte Hannah, und sie empfand reines Vergnügen dabei, dass Bob und die Henleys in diesen Tagen eine scheußliche Überraschung erleben könnten.
Hannah dachte an Pauls Warnung und wob Kayla in ihre Erzählung mit ein. Sie betonte ihre Großzügigkeit und Loyalität. Susan und Anthony kommentierten dies nicht weiter, doch Hannah spürte, wie ungeduldig sie wurden. Als sie ihnen von ihrer Entscheidung berichtete, mit Kayla nach Austin zu gehen, unterbrach Susan sie: »Aber du kennst sie doch gerade erst sechs Wochen.«
»Das stimmt«, sagte Hannah. »Doch glaubt mir, sechs Wochen an einem Ort wie dem Zentrum sind genauso lang wie andernorts sechs Jahre.«
»Wusstest du, dass sie auf ihren Stiefvater geschossen hat?«
»Ja, das hat sie mir gleich am ersten Tag erzählt, und ich verurteile sie nicht. Er hat ihre kleine Schwester sexuell belästigt.«
»Sagt sie.«
»Über so etwas würde sie keine Lügen verbreiten.«
»Menschen lügen aus vielerlei Gründen«, sagte Susan. »Tatsache ist, ihre Geschichte lässt sich nicht bestätigen.«
»Ich brauche keine Bestätigung. Ich glaube ihr, und das solltet ihr auch tun.«
Susan warf Simone aus dem Augenwinkel einen Blick zu.
»Was du nicht weißt, ist, dass sie ihn getötet hat«, sagte Simone. »Er ist vor zwei Tagen an einer Blutvergiftung gestorben. Kayla wird jetzt wegen Mordes gesucht. Hätten wir sie gestern Abend nicht mitgenommen, hätte die Polizei sie aufgegriffen.«
Die Neuigkeit schockierte Hannah. Wie würde Kayla sich fühlen, wenn sie das erfuhr? Reuevoll? Erleichtert? Hannah fragte sich, wie sie selbst empfinden würde, wenn sie einen Menschen, selbst einen bösen, getötet hätte. Die bittere Wahrheit traf sie hart: Sie hatte bereits getötet, und ihr Opfer war völlig unschuldig gewesen.
»Was werden sie mit ihr machen, wenn sie sie kriegen?«, fragte Hannah.
»Wohl wieder verurteilen«, sagte Anthony. »Normalerweise stecken sie Ersttäter nicht ins Gefängnis, vor allem Frauen nicht. Aber es könnte passieren, wenn sie einen scharfen Ankläger
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