Die Geächteten
bekommt.«
»Das dürft ihr nicht zulassen«, protestierte Hannah. »Kayla würde es nicht überleben, an so einen Ort zu müssen.« Die Bedingungen in den Staats- und Bundesgefängnissen waren für gewöhnlich sehr hart. Aus den Gefängnissen gab es keine Live-Übertragungen, Kameras waren nicht erlaubt. Und die wenigen Inhaftierten, die wieder herauskamen, sprachen nicht über ihre Zeit im Gefängnis.
Susan kehrte wieder zum Hauptthema des Gesprächs zurück, und ihr Ton wurde mitfühlender, vernünftiger. »Wir verstehen, Hannah, dass du an ihr hängst, doch du musst begreifen, welch großes Risiko du da eingehst. Hätte man dich zusammen mit ihr aufgegriffen, hätte man dich beschuldigen können, Komplizin gewesen zu sein.«
»Und was dann? Ich bin doch schon verchromt?«, fragte Hannah sarkastisch.
»Die Sache ist die«, sagte Susan leicht gereizt, »die Straße, die du jetzt einschlägst, wird eine lange und gefährliche sein. Und Kayla würde das Risiko, dass du geschnappt wirst, erhöhen.«
Nicht zu vergessen euer Risiko. Es gäbe eine weitere Person, die eure Gesichter gesehen hat, eine weitere Person, die euch bloßstellen könnte . »Erzählt mir von dieser Straße«, sagte Hannah und dachte an die Henleys und ihren Weg. »Wohin führt sie?«
»Nach Osten und Norden.«
»Und das Ende?«
»Erlösung«, sagte Anthony, »ein neues Leben.«
»Richtig, ich habe davon schon gehört.« Die Straße, dachte sie. Zerlumpt, ausgestoßen, allein und verzweifelt.
»Ich nenne es anders«, sagte Susan. »Umkehr.«
Hannah war still geworden, suchte in ihren Gesichtern nach Zeichen von Verschlagenheit, doch fand sie nicht. »Vom Verchromt-Sein?«
»Ja.«
»Aber wie? Das kann doch nur das genetische Team im Bundes-Chrom-Zentrum.«
»Nicht unbedingt.«
»Doch sie sind die Einzigen, die den Zugang zu den genetischen Codes und den viralen Sperren besitzen. Wenn jemand etwas falsch macht, sterbe ich.«
Susan machte mit ihrer plumpen Hand eine ungeduldige Geste und sagte: »Wir können jetzt nicht ins Detail gehen. Es reicht zu wissen, dass es einen Ort gibt, an dem die Prozedur sicher erfolgen kann, und wir dir helfen werden, dorthin zu kommen.«
»Wie weit nördlich?« Hannah sah Simone an. »Kanada?«
Der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers veränderte sich nicht, doch das plötzliche tiefe Schweigen im Raum gab Hannah zu verstehen, dass sie recht hatte. Das machte Sinn. Kanada hatte die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten abgebrochen, als der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Haut-Verchromung bestätigt hatte. Hannah war damals erst sechs Jahre alt gewesen, doch sie konnte sich noch gut an die Entrüstung ihrer Eltern erinnern, die die Kanadier als Verräter bezeichnet hatten. Die diplomatischen Beziehungen wurden während der Großen Geißel notgedrungen wieder aufgenommen, doch das Verhältnis zwischen den beiden Ländern blieb angespannt. Insbesondere Québec war bekannt dafür, ein Hort des Widerstandes zu sein, was die Verchromung betraf.
»Gut, wo auch immer es ist«, sagte Hannah, »ich werde nicht ohne Kayla gehen.«
»Ich befürchte, das wird nicht möglich sein«, sagte Susan. »Du musst verstehen, dass wir eine bestimmte Mission haben, und alles, was darüber hinausgeht, ist nicht unsere Angelegenheit.«
»Und trotzdem beobachtet ihr die Faustkämpfer«, hob Hannah hervor.
»Weil sie häufig Frauen ins Visier nehmen, die abgetrieben haben. Wir können nicht alle retten, Hannah.«
»Und nicht jeder verdient es, gerettet zu werden«, sagte Simone.
»Du klingst genau wie Cole«, sagte Hannah missbilligend.
»Wie meinst du das?«
»Er hat mir gesagt, dass einige Dinge es nicht verdienen, vergeben zu werden. Vielleicht solltet ihr und die Faustkämpfer euch zusammentun, um eure Ressourcen zu bündeln.«
Simones Nasenlöcher weiteten sich. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen? Wenn es nicht um uns ginge …«
»Unsere Ressourcen sind begrenzt«, unterbrach Anthony sie und warf ihr einen strengen Blick zu. Simone lehnte sich zurück, trotzdem starrte sie Hannah weiter an. »Wir setzen unsere Ressourcen nur für eine einzige Sache ein: Wir wollen die reproduktiven Rechte der Frauen verteidigen. Wir sind Feministen, keine Revolutionäre.«
Feministen . Bei diesem Wort sträubten sich Hannah die Nackenhaare. In ihrer Welt betrachtete man Feministen als unnatürliche Frauen, als Frauen, die glaubten, das von Gott festgeschriebene Gesetz auf den Kopf stellen zu können, indem
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