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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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versuchte, die Läden zu öffnen, und gab schließlich auf. Das allzu vertraute Gefühl, eingepfercht, eingesperrt zu sein, ergriff von ihr Besitz und beschwor ein Bild herauf. Nicht das des verspiegelten Verlieses in der Chrom-Station und auch nicht eines der schmalen Flure und düsteren Räume vom Zentrum des Geraden Weges. Das Bild, das sie sah, war ihr kleiner Arbeitsraum über der Garage, ein Ort, der für sie einmal ein himmlischer Platz gewesen war. Sie stellte sich vor, wie sie mit geneigtem Haupt und flinken Fingern einen weißen Faden durch weiße Seide und Taft zog und so kleine Stiche nähte, dass diese nahezu unsichtbar waren – so unsichtbar, das kam Hannah jetzt in den Sinn, wie sie selbst in diesem kleinen weißen Raum in dem weißen Mittelklasse-Stuckhaus in einem überwiegend weißen Vorort gewesen war. Dort war sie zur Welt gekommen und hatte ihr ganzes Leben verbracht. Sie war davon ausgegangen, dort so lange zu leben, bis ihr zukünftiger Ehemann sie an einen anderen Ort brachte, wo er Arbeit hatte. Sie sah, wie ihre Finger winzig kleine Stiche machten, Abertausende gleiche Stiche, während ihr Geist sich nach verbotenen Dingen außerhalb dieser weißen Wände sehnte, Dinge, die so verschwommen und unvollständig waren, dass sie diese nicht einmal benennen konnte. Und dann hörte sie ihre Mutter rufen: »Hannah, komm, das Essen ist fertig.« Sie sah, wie sie Nadel und Faden, ihre unzähligen Fragen und hauchzarten Träume beiseitelegte und sagte: »Ich komme, Mama.«
    Sie schlug mit der Faust gegen die Tür. Wie lange wollten diese Leute sie hier einsperren? Was war mit Kayla? Hatten sie ihr etwas angetan oder sie fortgebracht? Hannah schlug gegen die Tür, bis ihre Hand zu wund war, um weiterzumachen. Sie lehnte sich gegen die Tür und sah sich den Raum an, erblickte einen hellbraunen Teppich und grauweiße Wände, billige Möbel im Kolonialstil, eine geschmackvolle Tagesdecke mit Blütenmuster und botanische Drucke – eine Dekoration, die sie an die Hotelzimmer erinnerte, in denen sie sich mit Aidan getroffen hatte. Wie sehr hatte sie diese Zimmer gehasst – ihre Anonymität und heitere Banalität, ihre Undurchlässigkeit den Menschen gegenüber, die sich darin aufhielten, sich liebten und sich stritten, sich darin duschten, pissten und kackten – und dann vom Erdboden verschwanden, als wären sie niemals dort gewesen. Hannah lief auf der Suche nach Spuren seiner Bewohner ruhelos im Zimmer umher. Sie zog die Schubladen der Kommode auf und fand ein kunterbuntes Sammelsurium von sauberer, unscheinbarer Männer- und Frauenkleidung: Baumwoll-T-Shirts, Jeans, Socken, Unterwäsche, alles gebraucht. Wer hatte diese Sachen zuletzt getragen? Normale Leute – eine Kategorie, da war sie sich ganz sicher, zu der sie nicht mehr länger gehörte – oder Flüchtige wie sie selbst? Im Wandschrank hingen nur einige wenige, trist aussehende Jacken und Anoraks. Unter dem Bett war nichts, abgesehen von ein paar Wollmäusen, und auch nichts unter der Matratze. Doch als sie sich vom Boden erheben wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Unterseite des Nachttisches gelenkt. Irgendetwas stand da geschrieben, war in das unechte Holz eingraviert. Sie konnte es nicht lesen – es stand auf dem Kopf – also legte sie sich auf den Rücken und steckte ihren Kopf zwischen die schmalen Tischbeine. In sauberen Blockbuchstaben stand dort ein kurzer Vers:
    Spuren der Liebe im Bett
So beschreibt Menelaos
Die Abwesenheit von Helena
    Die Worte durchbohrten ihr Herz. Sie wusste nicht, wer Menelaos und Helena waren, doch sie ahnte, was er für sie empfunden haben musste oder was der Mann oder die Frau, der oder die diese Buchstaben sorgfältig eingraviert hatte, für jemanden empfunden hatte. Das Gefühl war ihr so vertraut und so unvermeidbar, wie das Pochen ihrer Finger nach stundenlangem Nähen oder die Krämpfe in ihrem Bauch vor der Menstruation. Er ist gegangen. Und was bin ich ohne ihn?
    Sie setzte sich hin und wurde mit der trostlosen Fläche des Bettes konfrontiert. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, allein darin zu liegen. Deshalb zog sie die Kissen herunter und rollte sich mit einem Kissen zwischen den Knien und einem vor ihrer Brust auf dem Boden zusammen. Ihre Liebe hatte sie verlassen und würde nie wieder das Bett mit ihr teilen, nie mit ihr zusammenleben. Wellen des Schmerzes erfassten ihren Körper, bis sie sich schließlich in den Schlaf weinte.
    Durch ein Klopfen wurde sie geweckt, und Simones Kopf

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