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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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erschien in der Tür. Sie sah Hannah genau an, ihren blassen Augen entging nichts. »Wasch dein Gesicht«, sagte sie mit ungewohnter Sanftmut. »Ich warte draußen.« Hannah hatte das Gefühl, als sei sie nicht die erste Frau, die Simone in diesem Zimmer weinen sah.
    Im Esszimmer saß Paul bereits am Tisch, neben ihm ein Paar in den Fünfzigern. Kayla war nicht dort.
    »Hallo, Hannah«, sagte die Frau mit einem einladenden Lächeln. »Ich bin Susan.«
    »Und ich Anthony«, sagte der Mann.
    Beide waren pummelig und wirkten auf Hannah angenehm und normal. Sie trugen Trainingsanzüge, die sie harmlos und ein bisschen lächerlich wirken ließen. Susans Trainingsanzug hatte die stechende Farbe von Lavendel, und ihre Fingernägel waren passend lackiert. Anthony war kahlköpfig, besaß ein Doppelkinn und einen betrübten Gesichtsausdruck, der zu sagen schien: Ja, ich bin all das, was du über mich denkst . Die beiden, dachte Hannah, passen hervorragend in dieses Haus.
    »Bitte, nimm Platz«, sagte Susan und zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?« War ihre Erscheinung eher konventionell und ein wenig albern, so war ihre Stimme alles andere als das. Es schien, als würde sie in Hannah läuten, honigsüß und kraftvoll, unmöglich zu ignorieren.
    Sie blieb stehen. »Wo ist Kayla?«, fragte sie. Die Worte kamen gepresst und nasal heraus, denn ihre Nase war vom Weinen immer noch dicht.
    »Hier«, sagte Anthony und hielt ihr eine Packung Taschentücher hin. Hannah fühlte sich unangenehm zur Schau gestellt, doch sie nahm eines und putzte sich die Nase.
    »Kayla schläft jetzt«, sagte Susan. »Sie war sehr müde. Wir haben sie zu lange vom Schlafen abgehalten.«
    »Ich möchte sie sehen.«
    »Es geht ihr gut. Wir haben ihr nur einige Fragen gestellt.«
    Hannahs Augen wanderten zu Paul. Er bewegte nicht den Kopf, doch er blinzelte einmal, langsam und wohlüberlegt.
    »Und nun«, sagte Susan, »haben wir einige wenige Fragen, die wir dir gern stellen würden, und ich bin sicher, auch du hast Fragen, die du an uns richten möchtest. Möchtest du dich nicht hinsetzen und einen Kaffee mit uns trinken?« Vertrau mir, sagte diese wunderschöne Stimme. Ich habe nur dein Bestes im Sinn.
    »Wer seid ihr? Warum habt ihr mir geholfen?«
    Susan lehnte sich vor und sah ihr in die Augen. »Das ist persönlich«, sagte sie.
    Hannah schüttelte den Kopf, weil sie das nicht verstand, doch dann begriff sie, und ihre Arme wurden von einer Gänsehaut überzogen. »O mein Gott, ihr gehört zu den Novembristen.«
    Die Novembristen waren berühmt-berüchtigt, eine Untergrundgruppe von Abtreibungsbefürwortern, benannt nach den 11/17-Attentätern, die das Missouri State Capitol, zwei Wochen nachdem der Gouverneur die Abtreibungsgesetze unterzeichnet hatte, in die Luft gejagt hatten. Die Novembristen wandten jedoch selten Gewalt an. Ihre bevorzugten Waffen waren Einschüchterung und öffentliche Demütigung. Getreu ihrem Motto »Abtreibung ist etwas Persönliches« richteten sich ihre Angriffe immer gegen einzelne Personen, die die freie Wahl auf Abtreibung ablehnten. Hannahs Mutter hatte als Freiwillige für die Gebärmutter-Wächter gearbeitet, als die Novembristen schockierende Holos von Retta Lee Dodd, der Gründerin der Wächter, veröffentlichten: sie als junge Frau, wie sie nackt in einem Strip-Lokal an einer Stange tanzt. Erst vor Kurzem hatten sie die Trinitätspartei erschüttert – und jeden Evangelikalen im Staat Texas, auch Hannah und ihre Familie, sprachlos gemacht –, als sie den stellvertretenden Vorsitzenden der Trinitätspartei als Homosexuellen geoutet hatten, der sich mit minderjährigen männlichen Prostituierten vergnügte. Die Novembristen wurden vom FBI gesucht, doch soweit Hannah wusste, war noch nie ein Mitglied dieser Gruppe gefasst worden.
    »Das stimmt, die Regierung nennt uns Terroristen, doch wir selbst betrachten uns als Freiheitskämpfer. Raphael gehört zu uns.« Susan neigte den Kopf und taxierte Hannah. »Du hättest ihn verraten können. Die meisten Frauen erzählen, was sie wissen, um sich drei weitere Jahre Strafe zu ersparen. Warum hast du es nicht getan?«
    »Weil er freundlich war. Darüber hinaus bezweifle ich, dass ich diese Zeit noch erleben werde. Mir ist die Überlebensrate der weiblichen Roten bekannt.« Hannah spürte eine Welle der Kälte in sich aufsteigen. Das war nicht das erste Mal, dass ihr der Gedanke kam, getötet zu werden oder in ein schwarzes Loch zu fallen und

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