Die Geächteten
sie die Familie zu sabotieren und Männer zu entmannen versuchten. Genauso wie Schwule, Atheisten, Abtreiber, Satanisten, Pornographen und säkulare Humanisten verdarben sie die amerikanische Lebensart. Hannah kannte viele Leute, die Feministen und deren abartige Anhänger beschuldigten, den Zorn Gottes hervorgerufen zu haben, das erste Mal bei den Angriffen der 9/ 11-Attentäter, dann bei der Bombardierung von Los Angeles und schließlich bei Katastrophen wie der Großen Geißel und dem Hayward-Beben. Hannah war es nicht gelungen zu glauben, dass Gott aus Rachsucht Millionen von Menschenleben zerstören ließ, auch wenn das Alte Testament davon sprach. So hart war Gott nicht. Trotzdem hatte sie es nie infrage gestellt, was man sie gelehrt hatte, und ganz gewiss nicht den Grundsatz, dass Frauen dazu gemacht waren, sich der liebenden Führung eines Mannes zu unterwerfen.
Sie betrachtete Simone, die in ihren Augen genau wie eine Feministin aussah, und Susan, die alles andere als feministisch wirkte. Dann sah sie die beiden Männer an. » Wir sind Feministen«, hatte Anthony ohne eine Spur von Verlegenheit gesagt. Fühlte sich das für ihn und Paul nicht unnatürlich an, sich selbst so zu bezeichnen? Und kam es ihnen nicht noch merkwürdiger vor, sich der Führung von Susan und Simone unterzuordnen? Warum sollten diese Männer – oder irgendein Mann – bewusst ihre Autorität an eine Frau abtreten?
Pauls Stuhl schrammte über den Boden. Seine traurigen Augen trafen Hannahs, und Hannah erinnerte sich wieder an Kayla, die ängstlich und verletzlich irgendwo in diesem Haus war.
»Ihr sagt, dass ihr Feministen seid«, sagte Hannah und erwiderte jeden einzelnen Blick. »Ich weiß nicht, was genau darunter zu verstehen ist, doch es scheint mir, es schließt auch ein, Frauen zu helfen, die junge Mädchen davor bewahren, vergewaltigt zu werden.«
»Sie hat recht, und du weißt das«, sagte Paul. Er hatte sich an Simone gewandt, nicht an Susan und Anthony. Und an seinem Ton merkte Hannah, dass dies zwischen ihnen ein alter Streitpunkt sein musste. »Es reicht nicht, nur für die freie Wahl auf Abtreibung oder für Frauenrechte allgemein zu kämpfen. Wenn wir eine wahrhaft faire Gesellschaft wollen, müssen wir über den Tellerrand hinausblicken.«
»Und wie sollen wir das tun, hä?«, sagte Simone. »Wie sollen wir wissen, wer unschuldig ist und wer nicht, wer es verdient, verchromt zu werden, und wer nicht? Wir haben nur deren Wort, das Wort verurteilter Krimineller.«
»Kein Mensch verdient das.« Paul zeigte auf Hannahs Gesicht. »Es ist verdammt noch mal barbarisch.«
Simone zuckte mit den Achseln. »Ich stimme mit dir überein. Aber das ist nicht unser Ding.«
»So«, sagte Paul, »du bist bereit, dein Leben zu riskieren, um für die Selbstbestimmung der Frau über ihr Leben und ihren Körper zu kämpfen, aber du glaubst, es sei vonseiten der Regierung in Ordnung, Menschen so etwas anzutun?«
»Die meisten von ihnen sind Abschaum. Frauenschänder, Drogendealer, Leute aus dem Rotlichtmilieu.«
Simone ist wie Bridget, dachte Hannah und fühlte eine Welle der Antipathie in sich aufsteigen. Sie fragte sich, ob Simone schmerzvolle Geheimnisse in sich trug, die sie unter ihrer Härte zu verbergen versuchte. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Auch Hannahs Leben war kein Zuckerschlecken gewesen, und dennoch hatte sie sich nicht in eine sarkastische Zicke verwandelt.
»Sicher gibt es Abschaum darunter«, gab Paul zu, »doch wie viele wurden nur durch ein System verkorkst, das sich seit dem Tag ihrer Geburt für sie zum Nachteil gestaltete? Es ist doch kein Zufall, dass fünfundsiebzig Prozent der Verchromten aus den unteren gesellschaftlichen Schichten stammen.«
»Und fünfundachtzig Prozent aller Verchromten sind Männer!«, sagte Simone. »Vielleicht kannst du jetzt damit aufhören, um dich zu schießen und …«
Susans Hand schlug hart auf den Tisch, und Hannah und die anderen zuckten zusammen. »Genug jetzt, beide! Das ist nicht die Zeit dafür.«
Simone nickte Susan kurz zu. »Du hast recht.«
In der sich anschließenden Stille betrachtete Hannah Paul, verdutzt über das, was er gesagt hatte. Seit sie vier Jahre alt war, bestand das Gesetz der Haut-Verchromung, und auch wenn der Anblick eines auf der Straße schlafenden oder vor der Suppenküche anstehenden Verchromten oftmals ihr Mitgefühl hervorgerufen hatte, hatte sie doch stets das Gesetz als gerecht und notwendig akzeptiert. Wie sonst hätte man nach
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