Die Geächteten
dass sie und Kayla nicht vertrauenswürdig seien? Würden sie sie gehen lassen, wohl wissend, dass die beiden Frauen sie identifizieren konnten? Paul schien freundlich zu sein, doch Simone war eine ganz andere Nummer. Hannah erinnerte sich an den festen Griff dieser Frau und wie zerbrechlich sich ihre Knochen dagegen angefühlt hatten. Sie zweifelte absolut nicht daran, dass Simone alles tun würde, was notwendig war, um sich selbst und ihre »Mission« zu schützen.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss sie aus ihren Gedanken. »Warte hier«, sagte Simone zu Paul. Sie erhob sich und ging in die Küche. Hannah konnte die Neuankömmlinge nicht sehen, doch sie hörte sie – einen Mann und eine Frau, die zu leise sprachen, als dass sie ihre Worte hätte verstehen können.
Paul klopfte mit den Fingerknöcheln auf der Tischplatte herum und zog so die Aufmerksamkeit von Hannah und Kayla auf sich. »Hört mir zu, ihr beiden«, sagte er mit weicher Stimme, die im Widerspruch zu seinem intensiven Gesichtsausdruck stand. »Sie werden versuchen, euch zu trennen. Sie werden es so anstellen, dass es attraktiv klingt, und versuchen, euch davon zu überzeugen, dass es das Beste für euch sei. Vielleicht behaupten sie auch, dass sie euch trennen müssen , aber ihr dürft das auf keinen Fall zulassen.« Er sah Kayla an. »Wenn ihr euch trennen lasst, bist du in Gefahr.«
»Was meinst du damit, wir seien in Gefahr?«, sagte sie.
»Nicht Hannah, nur du.«
»Warum ausgerechnet ich?«
»Du bist nicht auserwählt, hier zu sein. Du bist kein Teil unserer Mission.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Kayla.
»Macht nur, was ich euch sage. Egal, was sie versprechen, besteht darauf zusammenzubleiben.«
»Warum erzählst du mir das?«, wollte Kayla wissen.
Doch Hannah wusste es bereits, bevor sie bemerkte, wie er auf seine Hände starrte. Er warnte sie aus reiner Menschlichkeit, denn so war seine Natur, doch er hatte noch ein weiteres, gleichermaßen zwingendes Motiv, und das hatte mehr mit Leidenschaft als mit Mitleid zu tun. Paul blickte auf und sah Kayla an, und der Blick, den er ihr zuwarf, erfüllte Hannah mit schmerzhafter Eifersucht. Sie senkte den Kopf, damit es keiner sah. Warum und auf wen war sie eifersüchtig? Bevor sie sich über ihre Gefühle klar werden konnte, kam Simone wieder ins Zimmer und befahl Hannah, ihr zu folgen. Zu Kayla sagte sie: »Du bleibst!«
Hannah gehorchte nur widerwillig. Unter dem Torbogen wandte sie sich um und sah ihrer Freundin in die Augen. Dieser schnelle Blick, den sie tauschten, beinhaltete ein ganzes Gespräch:
Lass nicht zu, dass sie dir Angst machen.
Ich werde nicht, wenn du nicht wirst.
Wir haben die Henleys besiegt, wir können sie besiegen.
Wenn wir zusammenbleiben.
Wenn wir stark sind.
Und wenn wir nicht können?
Wir müssen, oder sie werden gewinnen.
»Komm«, sagte Simone ungeduldig. Hannah folgte ihr durch den Flur in ein kleines, unscheinbares Schlafzimmer. »Hier schläfst du.«
»Und was ist mit Kayla?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Was habt ihr mit Kayla vor?«
»Du musst sehr müde sein«, sagte Simone. »Ruh dich aus. Du wirst es brauchen.«
Sie ging und schloss fest die Tür hinter sich.
Hannah glaubte nicht, schlafen zu können, doch als sie sich auf das Bett legte, fiel sie nahezu sofort in einen tiefen Schlaf, obwohl das Licht noch brannte. Völlig desorientiert wachte sie in völliger Dunkelheit auf, doch schnell erinnerte sie sich daran, wo sie war und warum. »Licht an«, sagte sie, doch nichts geschah. Sie mussten den Smartmodus des Zimmers deaktiviert haben, um zu verhindern, dass sie Tür oder Fenster öffnete. Sie fummelte an der Lampe herum und machte sie manuell an. Die Fenster waren fest verschlossen, und im Zimmer befanden sich weder Video noch Uhr, doch sie schätzte die Zeit auf die frühen Morgenstunden. Sie fühlte sich zu erschöpft, als dass sie die ganze Nacht geschlafen hätte. Sie ging ins Bad, machte ihr Geschäft und putzte sich die Zähne. Sie sehnte sich nach einer Dusche, begnügte sich jedoch damit, Gesicht und Hände zu waschen. Sie wollte fertig sein, wenn Simone kam.
Hannah versuchte die Tür zum Flur zu öffnen, doch sie war verschlossen. Sie legte das Ohr an das Holz, konnte jedoch weder Stimmen von Menschen noch andere Geräusche hören. Dann probierte sie die Fenster zu öffnen. Die Läden waren aus Metall und wurden maschinell betätigt, doch sie fand keinen Schalter. Sie brach sich zwei Fingernägel ab, als sie
Weitere Kostenlose Bücher