Die Geächteten
der Zweiten Großen Depression die finanziell angeschlagenen Bundesstaaten und die Staatsregierung von den unerschwinglichen Kosten, die es verursachte, Millionen von Menschen in Gefängnissen unterzubringen, entlasten können? Und warum sollten wertvolle Steuergelder an Kriminelle verschwendet werden, während ehrliche Bürger Hunger litten, es an Schulen fehlte, Straßen und Brücken dem Verfall preisgegeben waren und Los Angeles immer noch ein radioaktiver Trümmerhaufen war. Abgesehen davon hatte das alte Strafjustizsystem offenkundig und jämmerlich versagt. Die Gefängnisse verfielen mehr und mehr und waren bis zum Bersten gefüllt, und die Mehrheit der Insassen lebte unter Bedingungen, die gleichermaßen schrecklich und verfassungswidrig waren. Raub, Mord, Krankheiten und Missbrauch an Gefangenen durch das wachhabende Personal waren an der Tagesordnung. In der Zwischenzeit nahm mit jedem weiteren Jahr die Rückfallkriminalität zu. Die Gewalttätigsten und Unverbesserlichen ins Gefängnis zu stecken und alle anderen der Verchromung zu unterziehen war nicht nur sehr viel kostengünstiger, sondern diente auch als Abschreckung vor Verbrechen und war eine humanere Art der Bestrafung. So hatte es Hannah von ihren Eltern und Lehrern gehört, und sie hatte es nie in Zweifel gezogen. Selbst als sie ihre Spritze bekommen hatte, war ihr nicht in den Sinn gekommen, diese Art der Bestrafung anzuzweifeln. Jetzt allerdings entdeckte sie sich dabei, wie sie die Gerechtigkeit des Systems infrage stellte. Wäre sie verchromt worden, wenn sie das Geld gehabt hätte, sich einen ausgefuchsten Verteidiger leisten zu können, statt mit einem Pflichtverteidiger vorliebnehmen zu müssen, der gerade zwei Jahre als Jurist tätig gewesen war und weitere sechzig Fälle am Hals hatte? Wäre Kayla verurteilt worden, wenn sie weiß gewesen wäre?
»Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest«, sagte Susan und unterbrach Hannahs Grübeleien. »Wenn du dich entschließt, diese Straße zu nehmen, gibt es kein Zurück. Du wirst nie wieder in der Lage sein, hierherzukommen oder mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen, nicht mit deiner Familie, mit niemandem. Du wirst einfach verschwinden, und schließlich werden sie davon ausgehen, dass du tot bist. Und wenn wir herausfinden, dass du mit ihnen Kontakt aufgenommen hast, bist du dran. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Mission aufs Spiel gesetzt wird.«
Die geliebten Gesichter ihrer Eltern, die von Becca und Aidan, die sich sorgten, dann trauerten und es schließlich akzeptierten, tauchten nacheinander vor Hannahs Augen auf. Aidan könnte im Gegensatz zu ihrer Familie nicht öffentlich über den Verlust klagen, doch es würde keinen Mangel an anderen Dingen geben, auf die er seinen Kummer richten könnte: Solch eine Tragödie, alle diese Familien haben durch das Lauffeuer ihr Zuhause verloren, alle diese Zivilisten, die von den Aufständischen niedergemetzelt wurden, all diese Kinder, die in Großbritannien an Malaria gestorben sind. Er hatte das Leid der anderen stets intensiv mit empfunden. Niemand, der ihn kannte, würde irgendeinen Verdacht hegen. Hannah dachte an den Tag zurück, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er war gerade von seiner zermürbenden Tour »Nächte des Überflusses« zurückgekehrt. Kreuz und quer durch das Land war er gereist, um Geld für die Kriegsflüchtlinge des Wasserkrieges in Nordafrika zu sammeln. Sein Gesicht war gezeichnet gewesen, seine Augen hatten wegen des Schlafmangels rote Ränder, und unter ihnen befanden sich dunkle Schatten. Als sie ihn gescholten hatte, weil er sich selbst zu viel abfordere, hatte er nur abgewunken und in erschreckenden Details die Lager beschrieben, die er in Westägypten, Libyen und Algerien gesehen hatte: die aufgedunsenen Bäuche der Kinder, die verdorrten Körper der Toten, die Mütter, die zu dehydriert waren, um Milch oder Tränen zu produzieren. In dieser Nacht hatten sie nicht miteinander geschlafen. Hannah hatte hinter ihm gelegen und seine Arme gestreichelt, bis er eingeschlafen war. Die ganze Zeit hatte sie an das Leben in ihr gedacht und gewusst, dass sie es auslöschen musste, nicht nur ihm zuliebe, sondern auch um aller anderen unbekannten Kinder und Mütter willen, deren Überleben von seiner Arbeit abhing. Sie hatte sich aus dem Zimmer geschlichen, bevor er aufwachte. Bevor sie ihre Meinung ändern konnte. Wie, so dachte Hannah jetzt, sollte sie es aushalten, niemals wieder in seinen Armen zu liegen? Ein
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