Die Geächteten
musste ihn gehen lassen. Das sagte sie sich selbst, fünfzigmal am Tag, doch es fühlte sich an, als würde sie ihre eigene Lunge, ihr eigenes schlagendes Herz gehen lassen. Und sie war noch nicht bereit für den Tod.
Dann eines Nachmittags – sie saß gerade mit Kayla und Paul vor dem Video und suchte etwas, das man sich ansehen konnte – war plötzlich Aidan auf dem Bildschirm, als hätte sie ihn dahin beschworen.
»Stopp«, sagte sie. Er stand auf der Bühne in einer großen Arena und predigte zu einer Gruppe von Teenagern. Es war eine Live-Show. Die Kamera schwenkte über die Menge und verweilte auf den entzückten, Bewunderung ausdrückenden Gesichtern der jungen Frauen.
»Ich bin heute Abend wirklich nicht in der Stimmung für eine Predigt«, sagte Kayla verärgert. »Suche fortsetzen.«
»Geh zurück«, sagte Hannah. Die Kamera zoomte auf Aidan.
»Was ist los mit dir?«
»Pst, ich möchte das sehen.«
»Gut, dann guck, was du willst«, sagte Kayla eingeschnappt und stolzierte aus dem Zimmer. Paul fluchte und lief hinter ihr her.
Hannah starrte auf Aidan. Als sie ihn das letzte Mal auf dem Video seiner Amtseinführung im September gesehen hatte, hatte er traurig und erschöpft ausgesehen. Jetzt, gerade einmal drei Monate später, sprühte sein rosa Gesicht vor Vitalität. In seinen Augen leuchtete die Leidenschaft, und seine Bewegungen auf der Bühne waren kraftvoll und überschwänglich. Und seine Worte! Er war eins mit dem Geist Gottes. Sie konnte sehen, wie dieser wie elektrischer Strom von seinen Lippen zu den Ohren der hypnotisierten Zuschauer strömte. Viele von ihnen standen da, die Arme zum Himmel erhoben, die Augen geschlossen, und bewegten sich zum Rhythmus seiner Stimme vor und zurück. Hannah sah dem Spektakel zu, und ihr Schmerz kämpfte mit einer wachsenden Ungläubigkeit. Hier war sie, eine Verchromte, eine Flüchtige, das Ziel von Faustkämpfern, um ihr Leben rennend. Und er sah … glücklich aus.
Ihr Geist war verwirrt, ein bleiernes Ding, formlos und erbärmlich. Wie weit musste er sich von ihr und der Liebe, die sie füreinander empfunden hatten, entfernt haben, um so auszusehen. War das je wirklich geschehen, oder hatte sie alles nur geträumt? Sie wollte es nicht glauben, doch der Beweis vor ihren Augen war erdrückend, unanfechtbar.
Er hatte sie gehen lassen.
Sie war nun schon seit einiger Zeit tot und hatte es nicht gewusst.
IV. Die Wildnis
IN DEN NÄCHSTEN TAGEN TAT HANNAH nur wenig, außer zu schlafen. Die Alternative – wach zu bleiben und über Aidan nachzudenken, sich nach ihrer Familie zu sehnen, sich über Kaylas bevorstehendes Verlängerungsdatum Sorgen zu machen und zu beobachten, wie sie und Paul sich zunehmend zueinander hingezogen fühlten – war nicht auszuhalten. Es gab nichts, um die Monotonie der Tage zu unterbrechen, nichts, um den Trübsinn zu vertreiben. Selbst ein Fest wie Weihnachten vermochte ihren Geist nicht zu beleben, obwohl ihre Aufpasser sich bemühten, es so feierlich wie möglich zu gestalten. Susan und Anthony spielten auf dem Video Choräle ab und schenkten Kayla und ihr warme Jacken, Handschuhe und robuste Stiefel. Simone war nicht da, doch Paul kam am Weihnachtsmorgen mit Taschen voller Lebensmittel und verbrachte den Tag mit Kochen. Kayla half ihm als Sous Chef. Hannah saß lustlos vor dem Video, eine Gefangene ihrer Erinnerungen und Zeugin fröhlicher Klänge und Gerüche, die aus der Küche strömten. Zu Hause hätte sie die Kartoffeln geschält, während ihre Mutter Teig geknetet und Becca den Truthahn mit Marinade bestrichen hätte. Ihr Vater hätte ab und zu in der Hoffnung, einen Bissen abzubekommen, seinen Kopf in die Küche gesteckt, und ihre Mutter hätte vorgetäuscht, verärgert zu sein, und ihn theatralisch aus der Küche gescheucht. Tante Jo hätte ihre berühmte Buttermilch-Pie mitgebracht, und Hannahs Cousinen selbst gemachte Pralinen, Lebkuchen, Makkaroni-Aufläufe mit Käse sowie Süßkartoffeln, die mit Marshmallows verziert waren. Die Frauen hätten in der Küche geplaudert, während die Männer im Wohnzimmer Football geschaut und über Politik geredet hätten. Wenn das Essen auf dem Tisch gewesen wäre, hätten sie sich alle an den Händen gefasst, und ihr Vater hätte das Gebet gesprochen.
Im Haushalt von Susan und Anthony wurde nicht gebetet, nicht an diesem Tag und auch an keinem anderen. Anthony öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte ihnen ein. Er erhob sein Glas und sagte: »Fröhliche Weihnachten!«
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