Die Geächteten
Anthony spekulativ, »das Mädchen ist jung und hübsch.«
»So?«, sagte Simone.
»Doppelter Köder für den Haken.«
»Das ist ein Argument«, sagte Paul schnell.
Es herrschte Schweigen, und Hannah wusste, alle warteten darauf, dass Susan die Entscheidung traf.
»Simone?«, sagte Susan endlich.
»In Ordnung«, sagte Simone. »Doch wenn bei ihr die Zerstörung beginnt oder wenn sie die Mission gefährdet …«
»Dann hältst du dich an den Kodex«, sagte Susan. »Einverstanden, Paul?«
»Einverstanden.«
Hannah zitterte am ganzen Körper. Falls er heuchelte, so konnte sie es nicht feststellen.
Sie wollte sich gerade in ihr Zimmer zurückschleichen, als sie ein leises Miauen hörte, das aus dem Esszimmer kam. Sie gefror zu Stein. Sie hatte Emmeline ganz vergessen, von der alle glaubten, sie sei mit ihr in ihrem Zimmer eingeschlossen. Wenn sie mitbekamen, dass sie zugehört hatte … Sie lief zurück zu ihrer Tür und schloss sie laut, dann bummelte sie in Richtung Esszimmer. Sie betete, dass bis dahin niemand die Anwesenheit der Katze bemerkt hatte.
»Guten Morgen«, sagte sie und bemühte sich, lässig zu wirken.
Alle waren von ihrer Anwesenheit überrascht, alle bis auf Anthony, der Hannah mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte. »Ich habe Emmeline letzte Nacht in ihr Zimmer gebracht«, sagte er den anderen. »Ich muss vergessen haben, die Tür abzuschließen.«
Vier Paar Augen durchbohrten sie auf der Suche nach einem Zeichen dafür, dass sie mitgehört hatte. Mit einem reumütigen Lächeln legte sie ihre Hand auf die Stirn. »Ich glaube, ich war gestern Abend etwas zu sehr in Feierstimmung. Kann ich ein Aspirin haben?«
Einige lange Sekunden lang bewegte sich keiner von ihnen. Dann sagte Paul: »Ich werde eins holen«, und Hannah spürte, wie die Spannung im Zimmer sich allmählich löste. Sie setzte sich vor Erleichterung zitternd hin.
»Bring Kayla gleich mit, wenn du gehst«, sagte Susan. Sie drehte sich zu Hannah. »Ihr werdet uns morgen verlassen.«
Vierundzwanzig Stunden später saßen Kayla und sie wieder in dem Lieferwagen, wieder mit Kapuzen über ihren Köpfen, auf dem Weg nach Columbus – doch in welches Columbus eigentlich? Hannah kannte nur eines, und das war die Hauptstadt von Ohio, aber wahrscheinlich gab es in jedem Bundesstaat ein Columbus.
Sie fühlte sich orientierungslos und irgendwie losgelöst, und das Gefühl wurde von Minute zu Minute und von Kilometer zu Kilometer stärker. Da war sie also wieder, in der Dunkelheit mit unbekanntem Ziel auf und davon rasend. Das schien eine geeignete Metapher für ihr derzeitiges Leben zu sein. Sie drückte ihren Rücken gegen die Wand des Lieferwagens und fühlte sich mit einem Mal schwindlig – so völlig ohne Halt, ohne ein Zugehörigkeitsgefühl zu irgendetwas oder irgendjemandem. Alles, was sie jemals hatte, verlor sie, alles. Und dann bewegte sich Kayla und stieß versehentlich gegen Hannahs Fuß, und sie tadelte sich selbst für ihre Gedanken. Wenn sie schon sonst nichts hatte, so besaß sie doch eine treue Freundin. Im Moment war das genug, um sie zu stützen und ihrem Leben eine Bedeutung zu geben.
Ihrem Leben, das trotz des Verlustes von Aidan irgendwie weiterging. Sie war unermüdlich in Bewegung, auf dem Weg zu einem Schicksal, dessen Bestandteil er nicht mehr war. Obwohl sie ihn nach wie vor vermisste, wusste sie, dass sich etwas in ihr verschoben hatte, seit sie ihn im Video gesehen hatte. Durch irgendetwas, das sie nicht erklären konnte, war aus dem inneren Gebrüll um seinen Verlust ein lautes Poltern geworden, und die Schmerzwellen hatten etwas von ihrer Heftigkeit eingebüßt. Das Loch, das sie tief im Innern gespürt hatte, war dabei, sich wie von Geisterhand selbst zuzuweben, und wenn sie tief in sich hineinsah, konnte sie sehen, dass eines Tages fern in der Zukunft von ihm nichts weiter übrig bleiben würde als eine schlecht verheilte Narbe, möglicherweise berührungsempfindlich, aber nicht länger schmerzempfindlich.
Sie und Kayla begaben sich in große Gefahr. Hannah machte sich da keine Illusionen. Trotzdem fühlte sie sich hoffnungsvoller und weniger ängstlich als noch vor zweieinhalb Wochen, als sie sich entschlossen hatte, Susans Angebot anzunehmen. Es hatte sicher damit zu tun, dass sie nicht von der Polizei gejagt werden würden. Sie spielte mit dem Ring, den Susan ihr an diesem Morgen gegeben hatte, und strich mit dem Finger über die glatte Wölbung des Steins – ein unechter Opal mit einem
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