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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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Hannah nippte an ihrem Glas. Sie hatte erst ein einziges Mal Alkohol getrunken, rosa Zeugs aus dem Karton, den ihr Freund Seth am Abend ihres Highschool-Abschlusses spendiert hatte. Falls sein Plan darin bestanden hatte, sie so beschwipst zu machen, dass sie mit ihm Sex haben würde, dann war dieser gründlich in die Hose gegangen. Nach zwei Bechern war ihr übel geworden, und er hatte die nächsten Stunden damit verbracht, ihren Kopf festzuhalten, während sie sich übergeben musste.
    Dieser Wein jedoch war etwas ganz anderes. Er lag schwer auf ihrer Zunge und schmeckte nach Kirschen, Vanille und ein bisschen nach Leder. Sie kippte das erste Glas schneller herunter, als es ihre Absicht gewesen war, und fühlte sich schon bald viel besser, irgendwie schwebend, distanziert von sich selbst und den anderen. Das Gefühl, losgelöst zu sein, außerhalb des Augenblicks dahinzutreiben und zu erleben, wie dieser unscharf und unwichtig wurde, wie etwas, das man im Rückspiegel eines langsam fahrenden Autos sah, war so intensiv, dass sie noch ein zweites Glas trank. Als sie nach der Flasche griff, um sich ein drittes Glas einzuschenken, stellte Susan die Flasche aus ihrer Reichweite.
    »Oh, gib ihr ruhig noch eins«, sagte Anthony. »Es ist Weihnachten, und sie ist weit weg von zu Hause unter Fremden. Wenn sie vergessen möchte, wer könnte es ihr verdenken?«
    An diesem Abend torkelte Hannah ins Bett und wurde wie gewöhnlich allein eingeschlossen. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sich ihr Mund pelzig an, und in ihrem Kopf tobte der Schmerz. Emmelines warmer Körper lag quer über ihrem Bauch, und ihre Katzenpfötchen massierten sie im Rhythmus ihres Schnurrens. Eine Gefälligkeit, ein Geschenk – Hannah war sich nicht klar, von wem, doch sie hatte das Gefühl, dass es von Anthony stammte. So lag sie eine ganze Weile, streichelte den Körper der Katze und war dankbar für die kurze Atempause von ihrer Einsamkeit.
    Ihre Blase und ihr hämmernder Kopf zwangen sie schließlich aus dem Bett. Ihr Gesicht im Spiegel sah aufgedunsen aus, vor allem rund um die Augen, und von einer Falte in ihrem Kopfkissen hatte sie einen tiefen Abdruck auf ihrer linken Wange. Vor einem Monat noch wären ihr solche Details gar nicht aufgefallen. Sie hätte nur ihre rote Haut gesehen und schnell den Blick abgewandt. Sie merkte, dass sie sich langsam daran gewöhnte. Bald würde ihr die rote Haut genauso wenig auffallen wie das Muttermal auf ihrem Hals oder die kleine Narbe – ein Andenken an einen Sturz vom Fahrrad – unter ihrer Unterlippe. Und in Kanada würde man die Verchromung rückgängig machen. Ob sie jemals wieder in der Lage wäre, ihr Gesicht zu betrachten, das dann nicht mehr rot sein würde?
    Nachdem sie sich die Zähne geputzt und geduscht hatte, fühlte sie sich etwas besser. Als sie aus dem Bad kam, kratzte Emmeline an der Tür zum Flur, wahrscheinlich wollte sie ihr Frühstück haben. Hannah drehte in der Gewissheit, die Tür verschlossen vorzufinden, flüchtig am Knauf, doch diese öffnete sich. Die Katze sprang in den Flur, und Hannah folgte ihr langsam. Als sie das Ende des Flures erreicht hatte, hörte sie streitende Stimmen aus dem Esszimmer. Sie schlich näher, um etwas zu verstehen.
    »Es ist entweder George, oder es sind Betty und Gloria«, sagte Susan.
    »Stanton vertraut George nicht«, sagte Simone.
    »Ich wette all mein Geld auf die Damen«, sagte Paul. »Die Frauen verschwinden erst, seit sie in Erie Station machen.«
    »Zufall«, sagte Simone nachdrücklich. »Es ist ausgeschlossen, dass Betty und Gloria dahinterstecken. Sie sind Lesben, Feministinnen.«
    »Und?«
    »Sie sollen ihre Schwestern verraten? Sie sollen diesen verdammten Bibel- salauds helfen, andere Frauen zu unterwerfen? Niemals.«
    Paul klang ungeduldig. »Hier habe ich eine Wahnsinnsneuigkeit für dich, Simone: Frauen sind wie Männer Menschen, und auch Lesben gehören dazu. Du bist genauso fähig, einen Verrat zu begehen. Wenn du scheißt, stinkt deine merde genauso wie die anderer Menschen.«
    Hannahs Augen weiteten sich. Du bist genauso fähig, hatte er gesagt. War Simone denn homosexuell? Hannah kannte nur eine Person, die schwul war, einen süßen, aufgeregten jungen Mann, der in der Drogerie neben ihrem Haus gearbeitet hatte. Sie hatte immer Mitleid mit ihm gehabt, eine Charaktereigenschaft, die ihr Vater bei ihr und Becca gefördert hatte, wenn ihre Mutter außer Hörweite war. John Payne teilte nicht die Ansicht seiner Frau und

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