Die Geächteten
Kopf, und sie bekämpfte es mit aller Kraft. Keiner von beiden konnte es sich leisten, Schwäche zu zeigen. Sie suchte Kaylas Augen und warf ihr mit erhobenem Kinn einen aufmunternden Blick zu. Kayla richtete sich ein wenig auf und füllte sich ihr Frühstück auf einen Teller.
Als alle am Tisch saßen, kam Susan sofort zur Sache. »Also Kayla, wir haben uns entschlossen, dir das Gleiche anzubieten, was wir Hannah angeboten haben.«
Kayla blickte Hannah an. »Und was ist das?«
Susan und Anthony warfen Hannah einen warnenden Blick zu, dann stürzten sie sich abwechselnd auf die Beschreibung der Straße, aber während sie bei Hannah die Möglichkeiten hervorgehoben hatten, stellten sie bei Kayla die Gefahren und die erforderlichen Opfer heraus. Hannah sah, wie ihre Freundin mehr und mehr zweifelte, vor allem, als sie hörte, dass es sich bei der Straße um eine Einbahnstraße handelte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, offensichtlich hin- und hergerissen. »Ich kann meine kleine Schwester nicht mehr wiedersehen oder meine Tanten und Onkel und Cousins?« Sie schaute zu Hannah. »Hast du ja gesagt?«
Hannah nickte, und Kayla schaute Susan an. »Du weißt, dass ich am fünften Januar zur Verlängerung muss. Kann das auch gemacht werden, wenn wir unterwegs sind?«
»Es gibt keine Garantien«, erwiderte Susan. »Die Straße ist unberechenbar. Und auch das Virus.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, du hast vielleicht nicht so lange. Bei einigen Menschen beginnt die Zerstörung früher. Andere gehen schon zwei oder drei Wochen früher hin, ohne dass sie etwas spüren. Und natürlich variiert die Anlaufphase von Mensch zu Mensch. Wenn du zu den Empfindlichen gehörst, kannst du innerhalb weniger Tage zerstört werden.«
Kayla biss sich auf die Lippe und starrte auf ihren Teller.
»Wie schwer du dir die Straße auch vorstellen magst«, sagte Simone, »sie wird noch härter sein. Du musst dir absolut sicher sein, dass du diesen Weg gehen willst.«
»Ich weiß nicht«, sagte Kayla und schaute Hannah mit einem unglücklichen, schüchternen Ausdruck an. »Wenn ich sechzehn Jahre hätte wie du, würde ich zweimal darüber nachdenken. Doch meine Strafe beträgt nur fünf Jahre. Vielleicht ist es besser, wenn ich hier mein Glück versuche.«
Hannah war fassungslos. Sie selbst begab sich Kayla zuliebe in die Schusslinie von diesen Leuten, und nun machte diese einen Rückzieher? Sie verlässt mich einfach, wie Aidan es getan hat . Der Gedanke kam unverhofft, und er setzte eine Flut von aufgestautem Groll frei, der sich in Hannah seit einiger Zeit gesammelt und unter der Oberfläche ihrer Liebe zu ihm geschwelt hatte. Ich habe ihm zuliebe das Leben unseres Kindes geopfert und mein eigenes, und der Feigling hat mich verlassen . So schmerzhaft die Erkenntnis auch war, der Zorn fühlte sich gut an. Sie hätte den leidenden Heiligen Aidan grün und blau schlagen können.
»Wenn du nicht wirklich sicher bist, dann solltest du nicht gehen«, sagte Anthony zu Kayla.
Hannah spürte, wie Pauls Augen auf ihr ruhten und sie anstupsten. Lass nicht zu, dass sie euch trennen . Sie beobachtete ihre Freundin, schätzte sie mit derselben Sachlichkeit ab, mit der sie Paul, TJ und dem Grünen im Bus begegnet war. Sie sah Furcht und Zweifel und Verletzbarkeit, Intelligenz und Mut. Was sie nicht sah, war Feigheit. Wenn sie an Kaylas Stelle wäre, würde sie nicht denselben Widerwillen verspüren, ihr ganzes Leben aufzugeben? Es sei denn, Kayla war gar nicht in der Position, in der sie sich glaubte. Und Hannah wusste, wenn sie jetzt nichts sagte, würden sie es zulassen, dass Kayla sich nichts ahnend entschied.
»Dein Stiefvater ist tot«, sagte Hannah.
Kayla starrte sie einen Augenblick erstaunt an, dann wandte sie sich an Susan. »Stimmt das?«
Ein widerwilliges Nicken. »Er ist vor zwei Tagen an einer Blutvergiftung gestorben.«
»Dieser Scheißkerl. Er musste hoch hinaus und sterben.« Bei diesen Worten versagte ihr die Stimme, und Hannah konnte sehen, dass ihre Prahlerei nur gespielt und sie zutiefst schockiert war. Ihr Ausdruck wurde düster, als sie die Konsequenzen realisierte. »Mörder kriegen mindestens zehn Jahre?« Susan nickte erneut. »Scheißkerl.«
»Zumindest kann er deiner Schwester nichts mehr zuleide tun«, sagte Hannah.
»Ja, das ist wohl wahr.« Kayla holte tief Luft und seufzte. »Ich nehme an, nun gibt es zwei für die Straße.«
Susan hatte ihnen mitgeteilt, dass sie in einigen Tagen aufbrechen würden, doch
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