Die Geächteten
eineinhalb Wochen später waren sie noch immer in diesem Haus eingesperrt und warteten. Die einzige Erklärung, die sie hörten: »Es hat eine Verzögerung gegeben.« Am Tag gingen Susan und Anthony weg, vermutlich zu ihren jeweiligen seriösen Jobs, und entweder Simone oder Paul passten auf. Hannah und Kayla fühlten sich zunehmend wie im Käfig und waren gereizt. Sie konnten nicht ins Freie gehen, und es war ihnen untersagt, auf das Netz zuzugreifen, um zu verhindern, so vermutete Hannah, dass sie mit irgendjemandem Kontakt aufnahmen. Sie durften nicht einmal das Video anmachen, außer es war jemand mit ihnen im Raum. Sie hatten wenig zu tun; essen, schwermütig sein und mit den Katzen spielen – so sah ihr Tag aus. Susans und Anthonys Bibliothek bestand hauptsächlich aus Kochbüchern, Militärgeschichtsbüchern und Ratgebern für Frauen mit so aufregenden Titeln wie So nähren Sie Ihren inneren Wolf . Hannah vermutete, dass all das – die Bücher, der zweifelhafte Kleidungsstil, die kitschige Dekoration – eine ausgeklügelte Tarnung war. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwo anders ein völlig andersartiges Leben führten: vielleicht in einer gepflegten Eigentumswohnung, in der sie französischen Wein tranken und bei einem delikaten Essen über Politik diskutierten.
Außer in der Nacht war es Hannah und Kayla erlaubt, sich frei im Haus zu bewegen, alle paar Tage am frühen Abend jedoch, wenn Susan und Anthony zu Hause waren und auch Simone anwesend war, wurden sie für eine Stunde oder zwei ohne irgendeine Erklärung in ihre Zimmer gesperrt. Nach dem zweiten Mal sah Hannah fünf benutzte Kaffeetassen auf dem Esstisch. Sie nahm an, dass es sich bei den Besuchern um andere Novembristen handelte, die gekommen waren, um Bericht zu erstatten und mit Susan und Anthony Pläne zu entwickeln. Und sie fragte sich, wie viele Mitglieder die Gruppe hatte und was sie in ihren anderen Leben taten. Es war befremdlich, daran zu denken, den einen oder anderen bereits getroffen, ihre Hände in der Kirche geschüttelt oder mit ihnen in der Schlange beim Kaufmann geplaudert zu haben – und sie nicht zu kennen.
Zu ihrer und Kaylas Erleichterung passte am Tag häufiger Paul auf sie auf als Simone. Seine Freundlichkeit bildete ein beruhigendes Gegengewicht zu ihrem eigenen nervenaufreibenden Schwebezustand. Das und seine Kochkünste waren bemerkenswert gut. Er bereitete üppige Mittagessen zu, um sie zu zerstreuen, und brachte damit auf ihre Vogelscheuchengestalten wieder etwas Fleisch: Hühnchen mit Parmesan, Spargelrisotto, Spinatsoufflé. Hannah hatte niemals in ihrem Leben so etwas gegessen – ihre Mutter war eine konventionelle Köchin und sie selbst zu desinteressiert, um mehr als die Grundlagen zu erlernen. Die Aromen begeisterten sie so sehr, dass sie oft laut aufstöhnen musste. Doch wenn Paul das Essen auf den Tisch brachte, hatte er nur Augen für Kayla, und wenn ihre Freundin mit Genuss aß, leuchteten seine Augen vor Stolz und Freude.
Unter seiner Fürsorge begann Kayla aufzublühen. Sie war nicht mehr ganz so niedergeschlagen wegen TJ, und ihr Witz und ihre Respektlosigkeit kamen wieder zum Vorschein. Sie versuchte, mit ihm zu scherzen, doch meist reagierte er auf ihre Flirtversuche nur mit Sprachlosigkeit. Hannah beobachtete die beiden und bemühte sich, ihren aufkeimenden Neid zu unterdrücken. Wie wundervoll musste das Gefühl sein, von einem Mann trotz der roten Haut – einem anständigen, attraktiven und nicht verchromten Mann – begehrt zu werden. Paul schien es völlig gleichgültig zu sein, dass Kayla eine Verchromte war. Wenn er sie ansah, sah er nur eine bewundernswerte Frau.
Hannahs Gedanken kehrten immer wieder zu ihrer Familie und Aidan zurück, sie drehten sich im Kreis. Der Gedanke an Aidan war besonders hartnäckig. Sie konnte ihm nicht entfliehen, nicht einmal im Schlaf. Er wartete bereits hinter ihren Augenlidern, wie er glücklich aus dem See auftauchte, Pearl in seinen Armen wiegte, Hannahs Knöpfe an ihrem Kleid öffnete und sein Mund dem Weg seiner Finger folgte. Einmal nach einem erotischen Traum hatte sie sich selbst berührt und so getan, als ob es Aidan wäre, der sie berührte. Doch als sie die Augen öffnete und sah, dass der Platz neben ihr leer war, verwandelte sich das Vergnügen in Bitterkeit. Fünfzigmal am Tag machte sie sich Gedanken darüber, wo er denn stecken könnte, was er gerade tun mochte, ob er an sie dachte. Und dann tadelte sie sich selbst für ihre Schwäche. Sie
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