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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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notwendiges Instrument der Macht. Die Wissenschaft zu fördern und zu schützen, gehörte zu den ersten Pflichten eines Herrschers. Er war sich bewusst, dass ein König sich bei dieser Aufgabe vor allem auf den Klerus stützen musste, weil dieser in Geistesdingen die beste Ausbildung besaß, und dass sich sein Programm vor allem an die Söhne der mächtigen Laien richten musste, die seine Hilfskräfte bei der Reichsregierung waren. Für ein solches Vorhaben war es mit einem Appell an die Franken nicht getan, sondern er musste das ganze kulturelle Potential des Reichs versammeln. Er bezog sogar Vertreter von Ländern mit ein, die nicht zum Reich gehörten, so etwa Iren, Angelsachsen oder Spanier. Es ist übertrieben, aus Karl dem Großen einen frühen Jules Ferry zu machen, der in die Schulen ging, um die Schüler zu ermutigen. Die von ihm geschaffenen oder geförderten Schulen waren hauptsächlich für die Söhne der Aristokratie bestimmt. Ab 781 scharte er Gebildete und Gelehrte um sich. Jean Favier hat sie die «Hofintellektuellen» genannt. Zu ihnen gehörten beispielsweise der Langobarde Paulus Diaconus, der eigentlich Warnefried hieß; der Italiener Paulinus von Aquileia; der Spanier Theodulf, der 797 zum Bischof von Orléans und Abt von Fleury-sur-Loire (Saint-Benoît-sur-Loire) ernannt wurde; und vor allem der Angelsachse Alkuin, geboren um 739 und gestorben 804, Karls wichtigster Ratgeber, der lange ein schlichter Diakon geblieben, schließlich aber Abt von Saint-Martin in Tours geworden war, wo er eines der lebhaftesten Zentren der so genannten karolingischen Renaissance errichtete.
    Diese Welt der Gelehrsamkeit ist im Wesentlichen eine Männerwelt, aus der jedoch einige Frauengestalten hervortreten. So ist beispielsweise Alkuin zugleich Ratgeber von Karls Schwester Gisela, Äbtissin von Chelles, die auf sein Drängen das intellektuelleLeben in ihrem Kloster fördert, wo sich eine rege Aktivität von Abschriften entfaltet. Eine große Adlige aus Aquitanien, Dhuoda, hat fern des Hofes ein Wissen erworben, das sie Anfang des 9. Jahrhunderts ihrem Sohn Bernhard, Graf von Septimanien, übermitteln möchte, indem sie ein Geleitbuch zur Lebensführung für ihn schreibt.
    Die karolingische Renaissance im Umkreis Karls des Großen ist jedoch beschränkter als das brillante, von Aufbruchstimmung geprägte Bild, das man sich von ihr gemacht hat. An seinem Hof hat sie übrigens einen ebenso spielerischen wie kulturbeflissenen Charakter. Karl und die Schar der Gelehrten bilden eine Hofakademie, deren Mitglieder ein literarisches Spiel pflegen, indem sie sich mit Pseudonymen aus der antiken Bildungswelt benennen. Interessanterweise vermischen sich dabei griechische und lateinische, aber auch biblische Namen. Alkuin ist Albinus oder Flaccus, das heißt Horaz; Angilbert ist Homer; Theodulf ist Pindar; ein junger Dichter, Modoin, ist Naso, das heißt Ovid; Karls Sohn, König Pippin von Italien, ist Julius, also Cäsar; doch andere sind Aaron oder Samuel; Adalhard von Corbie ist Augustinus; und Karl selber ist David, der «friedliebende König». Dieses Programm entspricht genau den Absichten Alkuins, aus dem Hof Karls des Großen ein «schöneres Athen» zu machen als das alte, weil «veredelt durch die Lehre Christi».
    Ein zweite Welle von Gelehrten setzt diese «Renaissance» nach Karl dem Großen unter Ludwig dem Frommen und Karl dem Kahlen fort, ja entwickelt sie sogar. Neben dem Hof rücken die neuen Klöster als Bildungszentren in den Mittelpunkt. So wurde Einhard beispielsweise im neu gegründeten hessischen Kloster Fulda erzogen, wo der große Hrabanus Maurus ab 822 die Stellung des Abts einnehmen sollte.
    Ohne die Verdienste der Karolinger maßlos zu erhöhen, bilden die intellektuellen Aktivitäten ihrer Zeit doch eine Schicht der europäischen Kultur. Karl der Große hat die Bedeutung des Wissens für das Ansehen und die Regierung eines Staates im
Capitulare de litteris colendis
hervorgehoben.
    Manche der von Karl und seinen Ratgebern durchgeführten Reformen haben sich als sehr wichtig erwiesen. So etwa die Reform der Schrift. Der neue Schrifttyp, die
karolingische Minuskel
,ist klar, stilisiert, elegant, leichter zu lesen und zu schreiben, so dass man sie als die erste europäische Schrift bezeichnet hat. Alkuin führt in seinem Bemühen um Klarheit in die rege Tätigkeit der klösterlichen, königlichen und bischöflichen
scriptoria
, der Schreibstuben, in denen Texte durch Abschrift vervielfältigt werden,

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