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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Bearbeitung des Bodens. Der archaische «Aufreißer», ein einfacher Haken, wird besonders in den Ebenen Nordeuropas durch den Pflug mit asymmetrischen Scharen und Streichbrett ersetzt, wobei das Wichtigste aber vielleicht in der Verwendung von Eisen statt Holz besteht. Der mit Pflug betriebene Ackerbau profitiert auch von einer besseren Anspannung der Zugtiere. Im Süden werden weiterhin hauptsächlich Esel und Maultiere, im Norden vorwiegend Ochsen eingesetzt, aber im nördlichen Flachland kommen auch Pferde in Gebrauch, die im 12. Jahrhundert die Ochsen von den bäuerlichen Nutzungsflächen Flanderns verdrängen. Selbst wenn die Bedeutung des als revolutionär gepriesenen gepolsterten Schulterkragens, der die Zugkraft des Tieres erhöht, übertrieben worden ist, zeugt seine Einführung und Verbreitung doch von einem Willen, die Anbaumethoden zu verbessern.
    Im Norden zeichnet sich eine andere Innovation ab, die sich als sehr wichtig für die Ertragssteigerung und die Diversifizierung der Kulturen erweisen wird: die Einführung eines dritten Ackerareals in das traditionelle Rotationssystem der Zweifelderwirtschaft, bei dem die Hälfte des Ackerlandes zur Erholung als Brache liegen bleibt. Die Umstellung auf die Dreifelderwirtschaft erlaubt den Anbau von Hülsenfrüchten und dank der Möglichkeit, zwei Ernten im Jahr einzufahren, höhere Erträge.
    In einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit für Umweltprobleme und Klimaveränderungen empfindlich zugenommen hat, scheint mir der Hinweis angebracht, dass «der Himmel», wie Marc Bompaire sagt, bei diesem Aufschwung, der dem Jahr Tausend folgte, vielleicht «etwas nachgeholfen hat». Zwischen 900 und 1300 soll in Europa ein optimales Klima geherrscht haben, bestimmt von einer Erhöhung der Durchschnittstemperaturen um ein bis zwei Grad und geringer Feuchtigkeit – ideal für den Getreideanbau.
Die Einbindung in Zellen
    Die Periode um das Jahr Tausend und die folgenden Jahrzehnte ist eine wesentliche Zeit für die politische und soziale Neustrukturierung des christlichen Raums, die in der territorialen Organisation Europas tiefe Spuren hinterlassen hat. Um der herausragenden Bedeutung der feudalen Burg bei dieser neuen Organisation Ausdruck zu verleihen, haben die Historiker dem großartigen Buch von Pierre Toubert über das mittelalterliche
Latium
ein italienisches Wort entlehnt:
incastellamento
, eine Art flächendeckende Einbindung in Burgherrschaften. Um den Ausdruck auf das gesamte mittelalterliche Territorium zu erweitern, hat Robert Fossier vorgeschlagen, von
encellulement
, einer Einbindung in Zellen, zu sprechen. Welches sind die grundlegenden Zellen dieser Organisation? Die Burg natürlich, aber es gibt drei weitere Basiszellen: die Grundherrschaft, das Dorf und die Pfarrei. Die Grundherrschaft bezeichnet das von der Burg beherrschte Territorium und umfasst die Ländereien und die Bauern, deren Herr der Grundherr ist. Die Grundherrschaft schließt also Land und Leute, Einkünfte, die Bodennutzung und die Abgaben der Bauern ein, aber auch ein Bündel von Rechten, die der Grundherr dank seiner Befehlsgewalt ausübt, den so genannten Bann. Da diese Organisation praktisch die ganze Christenheit betraf, plädieren manche Historiker dafür, den Ausdruck «Feudalsystem» durch «grundherrliches» System zu ersetzen. Der Begriff des Feudalwesens bezieht sich auf eine beschränktere Organisation, bei der der Grundherr an der Spitze eines Lehens steht, das ihm als Vasall von seinem Lehnsherrn überlassen worden ist, und es beschreibt vornehmlich Rechtsverhältnisse.
Dorf und Friedhof
    Innerhalb der Grundherrschaften befinden sich meistens Siedlungen von Bauern und Untertanen, die Dörfer genannt werden. Das Dorf, das an die Stelle der ländlichen Streusiedlungen der Antike und des frühen Mittelalters tritt, breitet sich im 11. Jahrhundert überall in der Christenheit aus. Während dieBurg nur noch als Erinnerung und Symbol, oft in Form von Ruinen, die Landschaften des heutigen Europa schmückt, ist die Gestalt des mittelalterlichen Dorfes in ganz Westeuropa vielfach erhalten geblieben. Das Dorf ist aus einer Ansammlung von Häusern und Feldern um zwei Schwerpunkte, Kirche und Friedhof, hervorgegangen. Robert Fossier hält den Friedhof zu Recht für das Hauptelement, das manchmal sogar älter als die Kirche ist. Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, der wir hier begegnen, ist ein prägendes Merkmal, das die mittelalterliche Gesellschaft Europa hinterlassen hat.

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