Die Geburt Europas im Mittelalter
Im Abendland bestand eine der wichtigsten Veränderungen beim Übergang von der Antike zum Mittelalter darin, dass die Lebenden ihre Toten in den Städten und später in den Dörfern begruben. Die antike Welt stand dem Leichnam mit Furcht, ja sogar Abscheu gegenüber. Und eine Totenverehrung gab es nur im engsten Familienkreis oder außerhalb der bewohnten Orte, am Straßenrand.
Mit dem Christentum vollzieht sich ein vollständiger Wandel. Die Gräber, in denen die Körper der Ahnen ruhen, werden in den städtischen Raum integriert. Im Mittelalter werden die engen Beziehungen zwischen Lebenden und Toten noch weiter verstärkt. Dies erfolgt durch eine Erfindung des 12. Jahrhunderts: das Fegefeuer als dritter Ort im Jenseits. Vor allem aber richtet das Papsttum unter dem Einfluss des Cluniazenserordens ab dem 11. Jahrhundert einen Gedenktag für alle Toten ein, den 2. November, gleich nach Allerheiligen. Auf diese Weise werden die beispielhaften Toten, die Heiligen, wieder mit der Masse der anderen Toten vereinigt. In den oberen Schichten der Feudalgesellschaft stellt die Ahnenpflege eine fundamentale soziale Bindung dar, die das Geschlecht begründet und stärkt. So erklärt beispielsweise Fulco le Réchin, der Graf von Anjou, am Ende des 11. Jahrhunderts, als er den Stamm seiner Vorfahren zurückverfolgt und bei den ältesten bekannten Gliedern angekommen ist: «Davor weiß ich nichts, weil ich nicht weiß, wo meine Ahnen begraben sind.»
Die Königshäuser haben sich beeilt, königliche Grablegen zu schaffen: Speyer in Deutschland, Westminster in England, Fontevrault in Anjou für die ersten Plantagenêts und San Isidoro in León für die Könige von León-Kastilien; die Grafen vonFlandern erhielten eine Grablege in der Genter Abtei Sint Bavo und die Könige von Frankreich in Saint-Denis.
Die Pfarrgemeinde
Gemeinsam mit dem Friedhof steht die Kirche im Mittelpunkt des Dorfes. Im Allgemeinen bildet sie aber auch den Mittelpunkt einer anderen wesentlichen Zelle, nicht nur im Dorf, sondern auch in der Stadt: Sie ist das Zentrum der Pfarrgemeinde. Die Institution der Pfarrei stabilisiert sich erst im 13. Jahrhundert; doch die Probleme, die zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert geregelt werden, sind in den Dörfern des 11. Jahrhunderts meistens schon gelöst. Das Hauptproblem ist eine Frage des Territoriums; am schwierigsten ist es bei der Einrichtung neuer Pfarrgemeinden in Stadtvierteln und auf dem flachen Lande zu lösen. Im Dorf spielt die Kirche für die Dorfbewohner naturgemäß die Rolle der Pfarrei, das heißt, einer Gemeinschaft von Gläubigen unter der Obhut eines Geistlichen, der Pfarrer genannt wird. Mit der Pfarrei verbinden sich bestimmte Rechte, insbesondere das Recht der Gläubigen, die Sakramente zu empfangen, und das Recht des Geistlichen, Abgaben zu erheben. Die Austeilung der Sakramente an die Pfarrkinder, die ein Anrecht darauf haben, die aber zugleich ein Monopol der Pfarrei darstellt, bindet den Dorfbewohner also sein ganzes Leben lang in seinem Alltag eng an die Pfarrkirche, den Pfarrer und die anderen Mitglieder der Pfarrgemeinde.
Eine Oberschicht: der Adel
Nach dem Jahr Tausend hebt sich immer geschlossener eine Oberschicht aus der Gruppe der Grundherren ab: der Adel. Mit dem Adel verbinden sich Reichtum und Macht, aber er ist vor allem ein Geblütsadel. Er bildet eine Klasse, die ganz von ihrem Prestige abhängt und in erster Linie darauf bedacht ist, ihren Rang zu beweisen, insbesondere durch ein bestimmtes soziales und religiöses Verhalten, die Freigebigkeit. Die Austeilung von Wohltaten an Individuen und vor allem an religiöse Gruppen, an Abteien oder Heilige ist die wichtigste Gebärde des Adels.
Woher kommen diese Adligen? Für die einen sind sie aus der römischen Antike überkommen, andere halten sie für eine Schöpfung des Mittelalters, die aus dem einer Elite vorbehaltenen Status der Freien hervorgegangen ist.
Jedenfalls hat sich im Lauf des Mittelalters überall im Okzident eine Oberschicht etabliert, «stolz auf ihren alten Stamm und stark durch ihren Reichtum, ihre Bündnisse und die öffentliche Rolle, die sie ausübt, auf Kosten des Herrschers oder mit seiner Hilfe», wie Léopold Génicot sie definiert; eine Schicht, die sowohl politische als auch rechtliche Privilegien und ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießt. Das Ansehen beruht, um es noch einmal zu sagen, im Wesentlichen auf dem Geblüt. Die Erhebung nicht adlig geborener Personen in den Adelsstand
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