Die Geburt Europas im Mittelalter
auf verschiedenen Wegen erfolgte, war Gewalt das vorherrschende Prinzip, und das Verschwindeneiner Zentralmacht unter den letzten Karolingern ließ der Gewalt der Grundherren freien Lauf.
Der christliche Frieden war ein geheiligter eschatologischer Begriff, der auf den Frieden im Paradies hindeutete. Dementsprechend drückte sich die Friedensbewegung um das Jahr Tausend durch Kundgebungen aus, die hauptsächlich von religiöser Begeisterung getragen wurden. Die wichtigsten Akteure dieser Bewegung waren die Kirche und die bäuerlichen Massen. Manche haben sie als eine Art Volkserhebung interpretiert, die von der Kirche ausgenutzt und vereinnahmt worden sei. Von den Friedensversammlungen, denen die Kirche die Form von Konzilien unter Teilnahme des Laienstands gab, wurden die neuen religiösen Realitäten der Christenheit verbreitet: der Reliquien- und Wunderkult. Aber es kam auch zu einer ersten Welle von Schutzmaßnahmen für die Schwachen: Bauern, Kaufleute, Pilger, Frauen und – die Kirche ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen – Angehörige der Kirche. Kurz, dem Europa der Krieger stellte sich ein Europa der «Waffenlosen» gegenüber. Die Friedensbewegung wurde von den Grundherren und politischen Führern vereinnahmt. Zum einen waren die für den Frieden erlassenen Vorschriften nicht geeignet, die Gewalt vollständig zu verbannen, sondern ein Mittel, sie zu kanalisieren, zu reglementieren. Der Gottesfrieden, wie er sich nannte, schrieb die Niederlegung der Waffen zu bestimmten Zeiten vor. Andererseits wurde die Wahrung des Friedens und, weniger anspruchsvoll, des Gottesfriedens, von denen gesichert, die zugleich mit großer militärischer, in Polizeigewalt übergehender Machtbefugnis, aber auch mit herrschaftlicher Legitimität zur Befriedung ausgestattet waren. Im Jahr 1023 verkündeten der französische König Robert der Fromme und Kaiser Heinrich II. bei einem Treffen an der Maas einen universellen Frieden. Später waren es also die Machthaber, die den Frieden proklamierten. Der Gottesfrieden wandelte sich in den Königsfrieden oder, in manchen Regionen wie der Normandie, den Herzogsfrieden. Die Friedenswahrung wurde eines der wichtigsten Instrumente, um die Macht der Könige in ihrem Königreich zu festigen. Er verlor die eschatologische und geheiligte Aura, die er um das Jahr Tausend gehabt hatte, blieb aber ein zutiefst religiöses Ideal. Auf «nationaler» unddann «europäischer» Ebene ist der Frieden bis heute eines derjenigen Ziele, denen Europas große kollektive Suche gilt. Wenn der König von Frankreich, Ludwig IX., der Heilige, ein Schiedsrichter, ein Befrieder, ein Friedensbringer war, wie man ihn nannte, dann deshalb, weil der Ruf seiner Heiligkeit es ihm erlaubte, eine ursprünglich sakrale Aufgabe besser zu erfüllen als andere.
Ein neues europäisches Heiligtum in Spanien: Santiago de Compostela
Ebenfalls um das Jahr Tausend zeichnete sich die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den Muslimen ab, die später als Reconquista bezeichnet wurde. Am Anfang des 9. Jahrhunderts hatte sich ein wichtiges Ereignis zugetragen. Im galicischen Compostela, auf dem so genannten Sternenfeld (
campus stellae
), dem Standort einer alten westgotischen Nekropole, war unter wundersamen Lichteffekten und Erscheinungen das Grab des heiligen Apostel Jacobus aufgefunden worden, der nach seinem Martyrium in einer Barke dort gestrandet sein sollte. Dieses Grab, über dem sich immer prächtigere Heiligtümer erhoben, wurde seit seiner Entdeckung um 820–830 nach und nach zu einem Pilgerzentrum, das seit dem 12. Jahrhundert neben Jerusalem und Rom den dritten großen Wallfahrtsort der Christenheit darstellte. Im Lauf der Kämpfe gegen die Muslime erschien Jacobus zunehmend als Helfer der Christen, der in den Schlachten auftauchte und den Namen
Matamoros
, Maurentöter, erhielt. Der hl. Jacobus zog Pilger aus der ganzen Christenheit an, und sein Grab wurde Ziel einer großen europäischen Pilgerfahrt – auch wenn jüngst behauptet wurde, den Haupterfolg hätte es nicht im Mittelalter, sondern in der Neuzeit gehabt. Im Übrigen bestätigt der Auftrieb, den Santiago de Compostela erfuhr, die Bedeutung der Peripherien für die Entwicklung Europas.
Unterdessen organisierten die Christen, die sich im Norden Spaniens gehalten hatten und laufenden Angriffen der Muslime ausgesetzt waren, insbesondere den Feldzügen unter al-Mansur (Plünderung von Barcelona im Jahr 985, von Santiago de Compostela im Jahr 997),
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