Die Geburt Europas im Mittelalter
Aufsehen. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts nannte man die Hochschulen
studium generale
, was auf ihren übergeordneten Status und auf einen enzyklopädischen Unterricht hinwies. Da sie sich im Umfeld der großen städtischen Bewegung berufsständischer Organisationen ansiedelten, schlossen sie sich wie die anderen Gewerbe zu einer Korporation zusammen und bezeichneten sich als «Universität», was soviel wie «Verband» bedeutete. Diese Bezeichnung tauchte zum ersten Mal 1221 in Paris zur Bezeichnung der Pariser Gemeinschaft der Magister und Scholaren auf:
universitas magistrorum et scolarium.
Vorab sei ein Unterschied erwähnt, den es heute nicht mehr gibt. Die Körperschaften der mittelalterlichen Universitäten folgten zwei Modellen. Beim Pariser Modell bildeten Lehrende und Studenten eine einzige für alle gleiche Gemeinschaft. Beim Bologneser Modell bestand die Rechtskörperschaft der
universitas
ausschließlich aus Studenten. Nur das Pariser Modell ist uns erhalten geblieben. Der Beruf des Universitätslehrers entstand im 13. Jahrhundert parallel zu dem des Kaufmanns. Der Kaufmann, der zunächst angeklagt wurde, er verkaufe die Zeit, die Gott allein gehöre – der Zinsertrag fließt dem Kaufmann sogar im Schlafe zu –, und dann, im 13. Jahrhundert, aufgrund seiner «Arbeit» und seiner Nützlichkeit gerechtfertigt wurde, befand sich in etwa in der gleichen Lage wie der Universitätslehrer. Ihm war im 12. Jahrhundert ebenfalls vorgeworfen worden, etwas zu verkaufen, was Gott allein gehöre, die Wissenschaft, und auch er wurde aufgrund seiner «Arbeit» gerechtfertigt: der Unterrichtung der Studenten, die ihm nun seine Lektionen bezahlendurften. Neben dem Europa der kommerziellen Arbeit entstand ein Europa der intellektuellen Arbeit.
Die Universitätslehrer verbanden eine Schreib- und Reflexionsarbeit, die wir heute Forschung nennen würden, mit der Tätigkeit des Unterrichtens. Dank ihres Ansehens und ihrer Stellungnahmen in sozialen und politischen Auseinandersetzungen – wenn es etwa um das Betteln der Mönche, die königlichen Gewalten oder das päpstliche Steuerwesen ging – spielten sie für viele außerdem eine Rolle, die seit dem 19. Jahrhundert im Allgemeinen den Intellektuellen zuerkannt wird. Das hat mich veranlasst, sie als die «Intellektuellen des Mittelalters» zu bezeichnen.
An der Spitze der Universitätsangehörigen stand ein von den Magistern gewählter Rektor, während der Kanzler, der die Oberaufsicht führte, im Allgemeinen vom örtlichen Bischof ernannt wurde, aber in dem Maße an Bedeutung verlor, in dem die Universitäten nach und nach eine fast vollständige Autonomie erlangten. Meistens entzogen sie sich auch den Eingriffen und Herrschaftsansprüchen der weltlichen Gewalten, sei es der Städte oder des Königtums. Als kirchliche Einrichtungen mussten sie dagegen Interventionen des Papstes akzeptieren. Obschon die Kirche sich gewöhnlich fern hielt oder sich mit leichten Einmischungen begnügte, gab es doch Fälle, in denen der zuständige Bischof seine Macht nutzte, um gewaltsam in die inneruniversitären Angelegenheiten einzugreifen und eine Art Zensur auszuüben. Am spektakulärsten war die Verurteilung bestimmter Lehrsätze aus dem Unterricht einiger Pariser Magister – so auch des Thomas von Aquin – durch den Bischof von Paris, Étienne Tempier, in den Jahren 1270 und 1277. Tempiers Verurteilungen zielten vor allem auf tatsächliche oder vermutete Anleihen beim Gedankengut eines arabischen Philosophen namens Averroes, der Kommentare zu Aristoteles verfasst hatte und etwas lehrte, was die Lehre von der «doppelten Wahrheit» genannt wurde. Dieser Theorie zufolge gab es neben der dogmatischen Wahrheit – die im Fall der Christen die der Bibel und der kirchlichen Lehrmeinung war – eine Wahrheit gemäß der Vernunft, die rechtmäßig gelehrt werden durfte, auch wenn sie der kirchlichen Wahrheit widersprach.
Aristoteles war gewissermaßen der große Mann der Universitätendes 13. Jahrhunderts, besonders in Paris. Während seine logischen Schriften seit langem in lateinischer Übersetzung vorlagen, wurden die Arbeiten zur Metaphysik, Ethik und Politik erst im 13. Jahrhundert entdeckt. Diese begehrten Schriften, die das lebhafte Interesse der Studenten auf sich zogen und zunächst einem Lehrverbot zum Opfer fielen, durften nun an den Universitäten gelesen werden. Man kann sogar von einem lateinischen Aristotelismus sprechen, der im Mittelalter in Mode kam und um 1260
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