Die Geburt Europas im Mittelalter
sein.»
Die Gabel, schon früh, aber ohne Erfolg von Byzanz nach Venedig gelangt, sollte sich erst ab dem 14. und 15. Jahrhundert langsam verbreiten.
Die ganze Literatur über die Umgangsformen gipfelte in dem berühmten Anstandsbuch
De civilitate morum puerilium
des Erasmus von Rotterdam, das, auf Lateinisch geschrieben, in mehrere Volkssprachen übersetzt wurde und im 16. Jahrhundert reißenden Absatz fand. Das Europa der guten Sitten entstand im 13. Jahrhundert.
Die zweideutige Aufwertung der Arbeit
In dieser Zeit fand auch ein bedeutender Wandel der Mentalitäten und Verhaltensweisen in einem wesentlichen Bereich der menschlichen Tätigkeit statt, in dem die mittelalterliche Tradition heute noch zu spüren ist: der Arbeit. Im frühen Mittelalter hatte die Arbeit einen zwiespältigen Stellenwert, der vor allem der klösterlichen Welt Probleme machte. Die Ordensregeln, angefangen bei der des hl. Benedikt, erlegten den Mönchen eine doppelte Arbeit auf: die geistige, die im Abschreiben von Handschriften bestand, und die Landwirtschaft, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Für die Mönche war die Pflicht, zu arbeiten, ein Akt der Buße. Im Buch Genesis stand geschrieben, Gott habe Adam und Eva als Strafe für den Sündenfallzum Arbeiten verdammt. Aber Buße tun war auch Sühne, und so erfuhr die Arbeit eine Aufwertung. In Anbetracht des Prestiges, das die Mönche in der Gesellschaft des frühen Mittelalters genossen, verlieh die Tatsache, dass ausgerechnet sie, die am höchsten angesehenen Personen, arbeiten mussten, der Arbeit einen positiven Wert.
Die Aufwertung der Arbeit beschleunigte sich zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert. Die technischen Fortschritte der Landwirtschaft, die Entwicklung des Handwerks in den Städten, das an die Arbeit gebundene Streben nach Reichtum und einem gehobenen sozialen Status – all das schlug sich auf das Bild nieder, das die Menschen von der Arbeit hatten. Wir haben gesehen, dass sowohl die Kaufleute als auch die Universitätsangehörigen durch ihre Arbeit legitimiert und anerkannt wurden. Und als die Bettelmönche wegen ihrer Weigerung, zu arbeiten, in die Kritik gerieten, verteidigten sie sich, indem sie das Predigen für eine Form der Arbeit erklärten. Die sozialen Schichten, die ihre Überlegenheit dadurch zeigten, dass sie sich der Arbeit enthielten – der Müßiggang der Denker und Kleriker, der Krieger, Ritter und der Adligen –, gerieten durch die Aufwertung der Arbeit im gesellschaftlichen und spirituellen Bereich in arge Bedrängnis. Die Kriegführung wurde als eine nützliche, zum Schutz der Schwachen notwendige Arbeit dargestellt. Das Apostolat der Kleriker wurde schon vor der Selbstverteidigung der Bettelbrüder anerkannt und gerühmt. Die ganze höfische und ritterliche Welt fühlte sich bedroht. Ein Sprichwort kam auf: Mühsal geht über Tapferkeit. Doch das Bild, das man sich von der Arbeit machte, blieb unscharf, da ein einheitlicher Begriff für Arbeit noch nicht existierte. Während das lateinische Wort
labor
(aus dem im Französischen
laboureur
und im Englischen
labor
hervorgingen) in erster Linie körperliche Anstrengung bedeutete, bezog sich
opera
(das im Französischen
œuvre
und
ouvrier
ergab) auf das Produkt der Arbeit, das Werk. Ein Unterschied, ja sogar ein Gegensatz blieb bestehen und verschärfte sich: der Gegensatz zwischen Handarbeit, die mehr denn je verachtet wurde, und den anderen, ehrenwerten und anerkannten Formen der Arbeit. Der Dichter Rutebeuf schrieb stolz über sich selbst: «Ich verrichte meine Arbeit nicht mit den Händen.»
So entstand ein Europa der doppelten, der würdigen und unwürdigen, Arbeit. Zu dieser Doppeldeutigkeit trug auch die Tatsache bei, dass die Gesellschaft, insbesondere die Kirche, die Reichen und die Mächtigen mit ihrem Ruhm der Arbeit hauptsächlich den Zweck verfolgten, die Arbeiter in der Knechtschaft derer zu halten, die ihnen Arbeit gaben. Diese Auseinandersetzung ist bis heute nicht beendet, und die fundamentalen Wandlungen der Arbeit in unserer Zeit stellen für die so genannten «fortgeschrittenen» Gesellschaften einen großen Umbruch dar.
Europa, die Mongolen und der Osten
Im 13. Jahrhundert hat eine Entwicklung Gestalt angenommen, die für die Frage der Einheit Europas von entscheidender Bedeutung war. Wie bei den meisten Identitätsfindungsprozessen, hat sich die europäische Identität in der Konfrontation mit Feinden oder «anderen» formiert. In der Antike waren es die Perser,
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