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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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dann die Barbaren und die Heiden und schließlich die Muslime. Einen letzten Anstoß gaben im 13. Jahrhundert die Mongolen. Der Einfall der mongolischen Horden, die 1241 bis nach Schlesien vordrangen, sich aber dann nach Osten wandten, löste bei den Christen eine geistige Erschütterung, ein panisches Entsetzen aus. Der König von Frankreich, Ludwig der Heilige, zog den Märtyrertod in Erwägung, und während seiner Kreuzzüge in den Orient ließ ihn der Gedanke an diese Fremden, die Mongolen – die ihm bald negativ, als furchtbare Feinde, bald positiv, als mögliche Verbündete gegen den Islam erschienen – nicht mehr los. Die Angst vor den Mongolen leistete einer Änderung der Mentalitäten Vorschub, die sich bereits mit Nachdruck angekündigt hatte und zur Abwendung von den Kreuzzügen führte. Das wachsende Interesse der Christen an ihrem eigenen Grund und Boden, ihren materiellen Gütern und den Geschäften des Abendlands hatte die Kreuzzugsbegeisterung gedämpft. Die Mongolengefahr besiegelte die Abkehr vom Heiligen Land.
    In dem langsam voranschreitenden Prozess der Ausbildung von Grenzen, die noch eher in Grenzgebieten als in den später von den Staaten festgelegten Linien bestanden, tauchte in Osteuropaeine neue, entscheidende Grenze des christlichen Europa auf. Zwei christliche Länder, erst Ungarn und dann Polen, sorgten für diese neue Sichtweise, indem sie sich als Schutzwall der Christenheit gegen die heidnischen Barbaren präsentierten: in erster Linie die Mongolen, aber aus ungarischer Sicht auch die Kumanen und aus polnischer Sicht die Preußen und die Litauer. Bezeichnend hierfür ist ein Brief, den der ungarische König Béla IV. zwischen 1247 und 1254 an den Papst richtete. In dem Schreiben heißt es, die Tataren – so die traditionelle Bezeichnung für die Mongolen – seien fest entschlossen, sehr bald schon ihr zahlloses Heer
gegen ganz Europa (contra totam Europam)
zu lenken, und er fügt hinzu: «Sollten, was Gott verhüten möge, das Reich von Konstantinopel und die christlichen Gebiete in Übersee verlorengehen, wäre das doch kein so großer Verlust für die
Einwohner Europas
, wie wenn die Tataren unser Königreich besetzten.» Noch deutlicher wird der Bischof von Olmütz in Mähren, der 1274 auf dem zweiten Lyoner Konzil warnt, der Kreuzzug lenke die Christen in ihrem Kampf gegen die Heiden und die Ungläubigen von der wahren Grenze ab, die er – wie Béla IV. – an der Donau verortet. Diese politisch-geographische Vorstellung, die die Karpaten und erst recht den Ural als Grenzen Europas ignoriert, sagt mehr über eine neue territoriale Konzeption Europas aus als die Gleichsetzung Europas mit der Christenheit.
    Dieses Europa ist «neu». Es ist ein Ergebnis des großen Aufschwungs, den die Christenheit vom 11. bis ungefähr zur Mitte des 13. Jahrhunderts erlebt hat. Ich glaube, dass zwischen der Mitte des 12. und der Mitte des 13. Jahrhunderts, um einen annähernden Zeitrahmen zu nennen – die großen Bewegungen der Geschichte lassen sich selten genau datieren –, ein tief greifender Wandel an der Basis des Wertesystems in der christlich-europäischen Gesellschaft zu beobachten ist. Meiner Ansicht nach resultiert diese entscheidende Wende daraus, dass sich ein guter Teil der Zeitgenossen des unerhörten Aufschwungs, der die Christenheit erfasst hatte, und seiner wesentlichen Folgen bewusst geworden ist. Wie wir gesehen haben, machte sich der Aufschwung mehr oder weniger intensiv und, je nach Ort und Milieu zeitlich versetzt, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar, im technischen ebenso wie im ökonomischen,sozialen, intellektuellen, künstlerischen, religiösen und politischen Bereich; entsprechend änderten sich in einer komplexen Interaktion auch die Werte, wobei dieser oder jener Bereich zeitweise stärker hervortreten und eine beschleunigende Rolle spielen konnte. Die Impulse wurden bald durch den Auftrieb der Städte gesetzt, bald durch die Agrarrevolution, das Bevölkerungswachstum, die Entwicklung der scholastischen Methoden und der Bettelorden, bald durch die Geburt des Staates, die Veränderung der Landbevölkerung oder das Auftreten einer neuen sozialen Schicht in den Städten, namentlich der Bürger.
Die Werte steigen vom Himmel auf die Erde hinab
    Ich möchte diese hochmittelalterliche Periode, in der sich die Menschen des großen Aufschwungs und des Wandels aller Werte bewusst wurden und sich das Wertsystem grundlegend wandelte, als die

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